Der Ethikrat wirbt für mehr Achtung der Selbstbestimmung. Demütigung und Traumatisierung seien zu vermeiden.
Das Thema wird oft verdrängt: Hilfe durch Zwang - ob Freiheitsentzug bei der Unterbringung in Kliniken, dem Anbringen von Bettgittern oder Fixierungsgurten in Pflegeheimen, medizinischen Behandlungen gegen den Willen eines Patienten oder Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen. Direkt oder indirekt betrifft dies hunderttausende Menschen.
Nach mehreren höchstrichterlichen Entscheidungen hat der Deutsche Ethikrat am Donnerstag in Berlin eine 272-seitige Stellungnahme dazu vorgelegt. Denn selbst "wohltätiger Zwang" - der in Ausnahmefällen zum Wohle des Patienten erlaubt ist - ist ein schwerwiegender Eingriff in die Grundrechte und muss besonders gerechtfertigt werden.
Zwang als letztes Mittel
Nach den Worten des Ratsvorsitzenden Peter Dabrock wollen die Experten keine einfachen Lösungen anbieten, sondern eher Abwägungskriterien für Betroffene, ihnen Nahestehende und professionelle Helfer. Der Kerngedanke: Zwang ist nur als letztes Mittel erlaubt. "Es müssen Wege gefunden werden, Zwang möglichst zu vermeiden, und wenn Zwang angewandt wird, ihn möglichst kurz, möglichst selten, möglichst schonend durchzuführen."
Der Rat hat es sich nicht leicht gemacht: Über zwei Jahre hinweg traf sich die zuständige Arbeitsgruppe 19 Mal, befragte 24 Sachverständige, 136 Privatpersonen und 16 Organisationen. Im Fokus standen die Praktiken in der Medizin, in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie in Pflege- und Behindertenheimen. Zu Wort kamen nicht zuletzt Betroffene, die Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie oder Jugendhilfe erleiden mussten - wie jenes Mädchen, das ohne jede Aufklärung von den Eltern getrennt und zu einer Einrichtung gefahren wurde.
Die Expertise beschränkt sich auf "professionelle Sorgebeziehungen" zum Wohle des Patienten. Die Gefährdung Fremder wie etwa des Pflegers durch einen randalierenden Alkoholiker oder einen aggressiven Verwirrten werden nicht thematisiert - "auch wenn es in der Praxis oft Überschneidungen gibt", wie die Berichterstatterin, die Bochumer Ethikerin im Fachbereich Heilpädagogik, Sigrid Graumann, einräumte.
Umsetzung in der Praxis
Und im Vordergrund steht nicht die Rechtsprechung, sondern die Umsetzung in die Praxis, so Graumann. Besonders in der Psychiatrie konstatierte sie nach den jüngsten Urteilen Verunsicherung. Das Bundesverfassungsgericht hatte noch im Juli die Anforderungen bei der Fixierung psychisch Kranker deutlich verschärft. "Wir haben in vielen Fällen zu wenig Sensibilität", so das Fazit Graumanns.
Wann ist aber "wohltägiger Zwang" zu rechtfertigen? Wenn die Fähigkeit des Betroffenen zur Selbstbestimmung "so stark eingeschränkt ist, dass er keine frei verantwortliche Entscheidung zu treffen vermag". Wobei zunächst "beharrliche Überzeugungsarbeit" gefragt sei. Erst wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, sind Zwangsmaßnahmen laut Ethikrat zu erwägen, wobei sie so mild und so kurz wie möglich anzuwenden sind.
Sie sollten zudem sorgfältig dokumentiert und später mit den Patienten aufgearbeitet werden. Vor allem aber sollte immer Achtung und Respekt vor der Person und ihrer Selbstbestimmung gewährleistet sein. "Demütigung, Traumatisierung oder Vertrauensverlust" gilt es zu vermeiden.
Zentraler Begriff der Selbstbestimmung
Der zentrale Begriff der Selbstbestimmung ist nach den Worten des Göttinger Medizinrechtlers Volker Lipp dabei stets "graduell" zu verstehen. Eine allgemeine Diagnose allein - wie schwere psychische Erkrankung oder starke Demenz - reiche eben nicht aus, betonte Lipp.
Umgekehrt gilt, "dass der freie Wille einer voll selbstbestimmungsfähigen Person auch dann zu respektieren ist, wenn ihr erhebliche Risiken für Leib und Leben drohen".
Die Experten legen besonderen Wert auf Prävention. Graumann verwies etwa auf die Praxis der "verdeckten" Medikamentierung ohne klare Anordnung, wenn ein Pfleger nachts allein auf der Station einen Altersverwirrten beruhigen muss. Diese Fälle müssten dokumentiert werden, um Abhilfe zu schaffen, so Graumann. Eine einseitige Schuldzuweisung an Träger, Sozialpolitiker oder professionelle Helfer wies sie aber zurück. Entscheidend sei eine Änderung der Haltung, die die Selbstbestimmung des Betroffenen stärker achtet.