Hier ist Nazareth. Und Bethlehem und Jerusalem mit dem Hügel Golgotha. Und alles auf einmal. Matera, mit seinem einzigartigen Ensemble archaischer Wohnhöhlen zur Europäischen Kulturhauptstadt2019 ausgerufen, ist vielen Besuchern vor allem für seine biblische Szenerie bekannt.
Filmkulissen in Matera
Wer auf dem Domplatz nach dem Leidensweg Jesu fragt, den schickt man ganz selbstverständlich in das Sträßchen neben dem Bischofshaus, erste Gasse rechts. Dabei erinnert der von Stützbögen überspannte Treppenweg nur von Ferne an die Via Dolorosa Jerusalems.
Der Mann, der hier blutüberströmt den Kreuzesbalken hinaufschleppte, hieß James Caviezel und folgte den Regieanweisungen Mel Gibsons, und zur Kreuzigung mussten sie einen Umweg von acht Kilometern mit dem Auto fahren, auf die gegenüberliegenden Seite der tief eingeschnittenen Schlucht der Gravina.
Einst wegen seiner Armut als "Schande Italiens" verschrien, kam Matera durch Pier Paolo Pasolini zu Filmruhm. Er fand in diesem abgehängten Winkel Süditaliens 1964 nicht nur die perfekte Kulisse für sein "Evangelium nach Matthäus", sondern auch die ursprünglichen, derben Gesichter.
Isoliert und ohne Infrastruktur
Es folgten Verfilmungen wie "König David" mit Richard Gere (1985), "Die Passion Christi" von Mel Gibson, Abel Ferraras "Mary" (2005), "Ben Hur" (2016) und jüngst "Magdalena" (2018).
In der Tat wirkte Materas Altstadt, die sogenannten Sassi, noch 2006 bei den Dreharbeiten zur Weihnachtsgeschichte ein bisschen wie Palästina, isoliert und ohne Infrastruktur, erzählt Leonardo De Angelis, damals Set Manager. "Als hätte man irgendwann die Türen abgeschlossen und den Schlüssel weggeworfen."
Auf der heutigen Flaniermeile Via Ridola gab es zwei einsame Cafés, berichtet De Angelis, und die Truppe von "The Nativity Story" musste in Altamura und Metaponto übernachten, weil es in Matera keine Herberge für sie gab.
Einsiedeleien und Kirchen im Fels
So abgeschlagen Matera von Welt und Geschichte wirkt, so unermesslich sind seine religiösen Zeugnisse: Seit dem Ausgang der Antike ließen sich an den Hängen der Gravina und auf den karstigen Höhen der Murgia Mönche nieder, gründeten Einsiedeleien und schlugen Kirchen in den Fels.
155 sind wissenschaftlich dokumentiert – eindrücklichstes Beispiel die Cripta del Peccato Originale mit einem Freskenzyklus, der gern mit den Werken Giottos (1267/76-1337) verglichen wird, aber 500 Jahre älter ist.
In diesem Reichtum spiegelt sich die wechselhafte Geschichte der Region. Hier überschneiden sich die Einflussbereiche von Abendland und Orient: Normannen, Sarazenen und Byzantiner hinterließen ihre Spuren; Benediktiner wählten Matera ebenso als Sitz wie franziskanische Bettelbrüder oder Mönche aus dem Osten. Für Letztere mochten sogar tatsächlich Anklänge an das Heilige Land eine Rolle gespielt haben.
"Die Kirche war über Jahrhunderte Motor der Kultur"
Das Erzbistum Matera will dieses Erbe im Blick auf das Kulturhauptstadt-Jahr 2019 fruchtbar machen. "Terre di luce" heißt das Projekt, mit dem die katholische Kirche in der Basilicata Gotteshäuser und historische Wallfahrtsorte erschließen will.
Auch Veranstaltungen zu spirituellen und sozialen Themen, Konzerte und Lesungen und ein Fernpilgerweg gehören zum Programm. "Die Kirche war über Jahrhunderte Motor der Kultur", sagt Don Filippo Lombardi, Medienverantwortlicher des Erzbistums Matera. Das kommende Jahr, hofft er, liefert neuen Schwung.
Initiativen gab es schon früher. Drei der bedeutendsten Höhlenkirchen werden vom Verein "Oltre l'arte" betreut, entstanden auf Anregung der Italienischen Bischofskonferenz. Die rund 30 Mitarbeiter sorgen dafür, dass die lange geschlossenen historischen Gotteshäuser seit einigen Jahren wieder zugänglich sind. Dazu gehört Santa Maria de Idris, hineingebaut in den schroffen Hügel, der wie ein Burgberg im Stadtteil Sasso Caveoso über der Schlucht der Gravina thront.
Nähe zum byzantinischen Kulturraum
Der rätselhafte Name "Idris" – wohl eine Verballhornung der griechischen Muttergottes-Bezeichnung "Odigitria" – erinnert wieder an die Nähe zum byzantinischen Kulturraum, ebenso wie das Bildprogramm der Kirche mit Christus-Pantokrator, Sankt Andreas oder einer Madonna ostkirchlichen Typs.
Die ältesten Fresken reichen in das 12. Jahrhundert zurück, und unter ihnen finden sich Kleinodien wie das Bildnis eines unbekannten Mönchs, nicht weniger eindringlich als das Porträt des heiligen Franziskus aus Subiaco.
Auch Santa Lucia alle Malve, das erste Frauenkloster Materas aus dem 8. Jahrhundert, und San Pietro Barisano mit seiner makabren Gruft, in der verstorbene Kleriker einst in Nischen sitzend ihrer Verwesung harrten, sind dank "Oltre l'arte" zu sehen. Der Verein sorgte dafür, dass Geh- und Sehbehinderte in San Pietro Barisano durch einen rollstuhlgerechten Zugang oder Informationen in Braille-Schrift wenigstens einen kleinen Eindruck von den Sassi erhalten.
Der Glaube ist noch immer tief verwurzelt
Mit Installationen zeitgenössischer Kunst schlägt San Pietro Barisano auch eine Brücke zur Gegenwart. So verstehen sich die Mitarbeiter von "Oltre l'arte" weniger als Aufseher denn als Animateure. "Jungen Leuten eine Gelegenheit geben, ihre Talente zu entfalten", beschreibt Tiziana Andrisani das Ziel. Als soziale Kooperative, betont die Führerin, beschäftigt ihr Verein auch körperlich und psychisch benachteiligte Personen.
Damit will die kirchliche Kulturinitiative so etwas wie ein Hoffnungszeichen in der an Zukunftschancen nicht eben reichen Gegend setzen – und ein Vorbild an Integration und Transparenz sein. "Unser Grundsatz der Legalität hat auf andere Unternehmen abgefärbt", sagt Andrisani.
Doch nicht nur Materas Gesellschaft, auch die Kirche selbst hat aus Sicht von Don Filippo Auftrieb nötig. Zwar ist Glaube "noch immer tief verwurzelt", betont er; die Volksfrömmigkeit kreist um die Stadtpatronin Madonna della Bruna, deren Gnadenbild in der Bischofskirche mit viel Inbrunst und jährlich einem großen Fest am 2. Juli verehrt wird.
Zurückgezogene Individualisten
Aber es machten sich "Formen des Individualismus" breit, sagt Don Filippo. Wie überall geht auch in Matera der Gottesdienstbesuch zurück. Für neue Aufbrüche ist der typische Materaner nicht schnell zu begeistern: "Früher, wenn es Familienzuwachs gab, baute man nicht eine Etage aufs Haus drauf. Man grub tiefer in den Fels. So sind die Menschen hier – eher zurückgezogen."
Unterdessen hat sich auch die Sozialstruktur der Sassi stark gewandelt. In den 1950er-Jahren zwangsgeräumt, siedelten sich im Zuge der erneuten Öffnung und Restaurierung seit den 80ern hauptsächlich Gewerbetreibende an – Läden für Souvenirs und Kunsthandwerk, Restaurants und Übernachtungsbetriebe.
Heute existiert zwar wieder eine eigene Pfarrei in den Sassi, Santi Pietro e Paolo; es gibt Gottesdienste und in der Karwoche einen schönen Kreuzweg durch die historischen Gassen. Aber im Grunde sei es ein leeres Viertel, sagt Don Filippo, und das Pfarreileben "sehr reduziert". Zumindest teilweise ist Matera doch nur religiöse Kulisse.
Von Burkhard Jürgens