domradio.de: Was macht die Situation an der griechisch-mazedonischen Grenze denn im Moment so dramatisch?
Dorothee Vakalis (frühere Auslandspfarrerin der Evangelischen Kirche in Griechenland, inzwischen im Ruhestand): Es ist so dramatisch, weil alles so unsicher und mit großer Angst verbunden ist. Die Flüchtlinge kommen weiter über das Mittelmeer nach Griechenland und die Angst hier in Griechenland "stecken" zu bleiben, greift um. Deshalb machen sich auch Flüchtlinge, die in andere Lager gebracht werden, zu Fuß auf den Weg, um ja zu denen zu gehören, die noch über die Grenze kommen. In Idomeni (Grenzort in Griechenland, Anm. d. Red.) ist es selbst so explosiv, weil in diesem Lager, das Ende August von den großen Organisationen dort aufgebaut worden ist, ungefähr 1600-2000 Menschen überhaupt in Zelten Platz haben. Jetzt sind dort über 8000 Menschen und es kommen immer mehr. Da können Sie sich natürlich vorstellen, dass die Angst um sich greift: Was wird aus uns?
domradio.de: Die Medien berichten davon, dass an der Grenze auch Tränengas eingesetzt wird, die Rede ist von Tausenden von Menschen, die den Zaun stürmen. Wie genau erleben Sie das? Ist das wirklich so dramatisch?
Vakalis: Ich denke, es ist sehr dramatisch und es ist sehr explosiv, weil die Menschen voller Angst sind, voller Verzweiflung. Was da passiert ist, war zu erwarten. Es war jetzt nicht, dass da alle 8000 an den Zaun gegangen sind, es waren vielleicht einige Hunderte. Sie müssen sich vorstellen, wenn da 8000 Menschen sind, die die weiter weg sind, die bekommen das noch gar nicht mal mit. Es hat sich auch nach einer gewissen Zeit beruhigt, auch nachdem das Tränengas von der anderen Seite eingesetzt worden ist. Da sind nicht nur mazedonische Grenzbeamte, sondern ich habe neulich welche aus Slowenien gesprochen. Da sind jetzt vom ganzen Balkan Leute heruntergeschickt worden, um diese doppelt abgesicherte Grenze zu bewachen.
Es war in diesem ganzen Durcheinander das Zelt der NGO-Praxis zerstört worden und dann hieß es, wie verteilen wir jetzt das Essen. Die Flüchtlinge haben wirklich 3000 Menschen in eine Reihe aufgestellt, die friedlich und geordnet, die Essensausteilung über zwei Stunden lang selbst organisiert haben.
domradio.de: Hat sich das Bild der Menschen denn verändert, es sollen ja inzwischen mehr Frauen und Kinder sein, oder?
Vakalis: Im Sommer waren es vorwiegend junge Männer, aber auch ältere, vielleicht viele in der Hoffnung ihre Familien auf sicherem Weg über Familienzusammenführung nach Europa holen zu können. Die letzten Male, wo ich da war, war mein Herz zerrissen: diese vielen kleinen Kinder, die dort rumliefen. Wir haben eine Mutter aus Syrien betreut, die mit sechs Kindern dort angekommen ist. Das müssen sie sich mal vorstellen, was diese Frau für eine Kraft hat, mit sechs Kindern aufs Boot, in den Bus und dann hier im Freien zu schlafen. Ich bewundere diese Menschen auch. Wenn ich da bin, erlebe ich immer wieder eine große Kraft in ihnen und eine ganz große Freude, wenn man mit ihnen redet, ihre Geschichte anhört. Da ist auch ein Bedürfnis nach Kommunikation da.
domradio.de: Sie selbst engagieren sich vor Ort für eine Hilfsorganisation. Was können wir auch in Deutschland tun, um dieses Leid zu lindern und zu helfen?
Vakalis: Ich denke, die Hilfsorganisationen müssten sich koordinieren und müssten so eine Art Task Force bilden, dass konzentriert geholfen wird. Es geht ja nicht nur um "Bed&Breakfast", sondern es geht vor allen Dingen um rechtliche Beratung, es geht um psychologische Beratung. Wir haben viele Frauen, die allein reisen ohne Männer mit Kindern, die Gewalt erlebt haben, die traumatisiert sind. Wir treffen immer wieder auch auf allein reisende minderjährige Jugendliche, die Beratung und Begleitung bräuchten. Was die schon alles erlebt haben, nicht nur im Herkunftsland, sondern auch auf ihrer Reise. Uns haben junge Afghanen erzählt, was für eine Todesangst sie gehabt haben als sie in diese Schlauchboote gestiegen sind. Menschen, die noch nie am Meer waren, die nicht schwimmen können. Es fehlt an Projekten der Betreuung und der Begleitung dieser Menschen. Da müsste sich von Deutschland aus die großen Organisationen zusammentun und wirklich hier Fachkräfte einsetzen, die die Menschen begleiten. Die Grundversorgung soll ja durch die EU geschehen und wird in einem bewundernswerten Maße auch von der Bevölkerung getragen, also 90 Prozent der Grundnahrungsmittel für unsere Solidaritätsküche, die täglich zwischen 2000-3000 Menschen versorgt, werden uns aus der Bevölkerung durch Spenden gebracht. Das muss man sich mal vorstellen, welche Mengen das sind.
Das Interview führte Verena Tröster.