DOMRADIO.DE: Verliert die Stimme der Kirche mit den Austritten ihre Kraft in der Gesellschaft?
Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer (Lehrstuhlinhaberin für Christliche Gesellschaftslehre an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg): Wenn es allein um die Quantität geht, dann ja. Denn die Situation ist so, dass erstmalig die Christen beider Konfessionen nicht mehr die Mehrheit in der Gesellschaft haben. Damit geht die Präsenz als öffentliche Stimme und die Präsenz in den Medien ein Stück weit zurück.
Aber ich glaube nicht, dass deswegen die Kraft und die Relevanz dessen, was Christen und Christinnen zu sagen haben und was sie durch ihr Handeln bewirken, sehr zurückgeht. Es findet in einem anderen Kontext und ich glaube in einem anderen, noch neu zu erlernenden Modus statt. Heißt:
Es ist nicht mehr so, dass die Kirche als die Lehrmeisterin der Gesellschaft auftreten kann. Das haben wir 1961 noch in den Titel einer Enzyklika gehabt: Mater et Magistra, Mutter und Lehrmeisterin. Das funktioniert so nicht mehr.
Papst Franziskus sagt: Was jetzt als Beitrag kommt, ist ein demütiger Beitrag. Ob das immer so funktioniert, ist eine zweite Frage, aber die Mentalität ist schon eine deutlich andere und muss eine andere sein.
DOMRADIO.DE: Sie lehren christliche Gesellschaftslehre. Das impliziert, dass die Kirche der Gesellschaft etwas zu lehren hat. Was kann das heute noch sein?
Nothelle-Wildfeuer: Kurz zu diesem Begriff: christliche Gesellschaftslehre. Der Begriff hat sich aus der Tradition so ergeben. An manchen Fakultäten heißt es eben noch Gesellschaftslehre. Aber Lehre meint nicht, dass wir ein fertiges System hätten, das wir der Gesellschaft mitteilen und anwenden müssten, sondern dass wir schauen: Was sich aus dem Evangelium im Sinne der Frohen Botschaft ergibt; was sich aus den vielfältigen Erfahrungen, die im Laufe der Geschichte gemacht wurden, ergibt, um heutige gesellschaftliche Fragen, soziale Fragen, Fragen der sozialen Gerechtigkeit bewältigen zu können.
Es ist nicht das fertige Patentrezept, das wir liefern können, sondern es sind einzelne unverzichtbare Elemente, wie die Sorge um die Menschenwürde und -rechte, aber auch die Sorge um gesellschaftliche Spaltungen, wie zum Beispiel zwischen Arm und Reich; dass Menschen, die am Rande stehen, nicht völlig in Vergessenheit geraten; dass da, wo Arbeit 4.0 oder Industrie 4.0 um sich greift, Menschen nicht allein gelassen sind, wenn es um diese Transformationsprozesse geht.
Das heißt, dass Kirche als Allererstes sehr gut zuhören muss. Die Kirche muss erst mal lernen, was die Menschen bewegt, was deren Nöte sind, um nicht Antworten zu geben auf Fragen, die gar nicht gestellt werden, sondern mit den Menschen zu schauen, was die Probleme sind und wo Gerechtigkeitslücken klaffen. Dazu gehört im Anschluss das Aushalten, dass man vielleicht nicht die perfekte Antwort hat.
DOMRADIO.DE: Wo gibt es denn den dringendsten Bedarf, dass die Kirche mehr als bisher hinhört und konkrete Lösungswege aufzeigen oder die Stimme erheben muss?
Nothelle-Wildfeuer: Die Stimme erheben muss, ist gut. Ein Punkt, der sich in den letzten zwei Jahren noch mal deutlich entwickelt hat, ist der ganze Bereich des Populismus, der Vereinfachung und Simplifizierung all dessen, was uns bedrohlich erscheint, wo viele Menschen Sorgen haben. Ein Beispiel dafür sind die Fragen rund um Corona oder in den Jahren davor die Fragen zum Thema Flucht und Migration.
Bei solchen Themen geht es darum, zu versuchen, alle verschiedenen Positionen und Ängste wahrzunehmen, die sich breitmachen. Dazu gehören auch Ängste, die zum Teil irrational sind, aber nicht nur irrational sind. An dieser Stelle gilt es zu schauen, wo die Wurzeln, wo die Gründe für diese Ängste liegen.
Es geht nicht darum zu sagen: Wir haben die Lösung für euch. Wir wissen, wo es lang geht und wo es herkommt, sondern wirklich in den Diskurs einzusteigen. Was dabei wichtig ist, ist, dass die Kirche nicht aus ihrer ethischen oder moralischen Kompetenz heraus eigene Erkenntnisse in alle Sachfragen mit einbringt, sondern sich zuerst zu den Themen so schlau wie möglich zu machen.
Weil Sie gefragt haben, wo ich mir persönlich eine deutlichere und entschiedenere Stellungnahme wünschen würde, dann ist das gerade bei Fragen um den Populismus wichtig. Bei vielen Punkten darf es unterschiedliche Meinungen und unterschiedliche Positionen geben, aber in der Frage der Anerkennung der Menschenwürde eines jeden Menschen - egal wo er herkommt, wie er aussieht, welche Gründe er hat, sich hier niederlassen zu wollen.
An dieser Stelle sehe ich diese bedingungslose Anerkennung zutiefst christlich begründet. Deswegen muss dazu christlicherseits ein sehr entschiedenes Statement kommen. Es gibt zu dieser Frage keine zwei Seiten beziehungsweise diese oder jene Seite der Wahrheit.
Das Interview führte Gerald Meyer.