Expertin kritisiert Patriarch Kyrill für Kriegsunterstützung

"Großes Maß an Realitätsverweigerung"

Die russisch-orthodoxe Kirche steht hinter Präsident Wladimir Putin und seinem Angriffskrieg in der Ukraine. Wie kann eine Glaubensgemeinschaft einen Krieg gutheißen? Und welche Rolle spielt die katholische Kirche in Russland?

Patriarch Kyrill mit Präsident Wladimir Putin (r.) / © Gavriil Grigorov/Pool Sputnik Kremlin/AP (dpa)
Patriarch Kyrill mit Präsident Wladimir Putin (r.) / © Gavriil Grigorov/Pool Sputnik Kremlin/AP ( dpa )

DOMRADIO.DE: Der Auftrag jedes Christen sollte es doch sein, Frieden zu schaffen und das Leben zu schützen. Wie kann denn die russisch-orthodoxe Kirche und ihr Patriarch hinter einer Regierung stehen, die einen Angriffskrieg führt?

Regina Elsner (privat)

Prof. Dr. Regina Elsner (Lehrstuhl für Ostkirchenkunde und Ökumenik an der Universität Münster): Das kann ich mir nur noch mit einem großen Maß an Realitätsverweigerung erklären. Die russisch-orthodoxe Kirche und gerade auch Patriarch Kyrill selbst sprechen durchaus immer wieder von Frieden und stellen diesen Krieg, der seit inzwischen zehn Jahren läuft, als Friedensmission dar.

Es herrscht die Vorstellung, dass Russland Frieden in die Region bringt, und dafür müssen Opfer in Kauf genommen werden. Dazu kommt, dass Menschen, die dort sterben, oft nicht als Menschen bezeichnet werden, sondern als Nazis oder Feinde, die eliminiert werden müssen.

DOMRADIO.DE: Die persönliche Zuneigung von Präsident Putin und Patriarch Kyrill scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Zum 15. Amtsjubiläum des Patriarchen Anfang Februar brachte Putin persönlich einen Strauß weißer Rosen vorbei. Drehen wir die Frage mal um: Was bringt Putin die Nähe zur Kirche?

Elsner: Die Kirche liefert ihm den Sinn für den Krieg. Sie liefert die transzendente Begründung, warum der Krieg sinnvoll ist, warum Russland auf der richtigen Seite steht. Außerdem liefert die Kirche Putin die Herzen der Menschen, weil die Kirche nach wie vor ein Großteil der russischen Bevölkerung für den Krieg mobilisiert. Das schafft sie, indem sie den Krieg in einen höheren Auftrag rahmt.

Prof. Dr. Regina Elsner

"Deswegen braucht Putin die Kirche tatsächlich, um seinen Krieg durch den Kampf für ein höheres Ziel zu legitimieren."

Russland habe ein größeres Ziel und kämpfe gegen das Böse. Das ist eine viel anziehendere, attraktivere und unterstützungswürdigere Erzählung als die reinen Fakten, dass Russland sein Nachbarland überfällt, um sich Territorium und Macht anzueignen. Deswegen braucht Putin die Kirche tatsächlich, um seinen Krieg durch den Kampf für ein höheres Ziel zu legitimieren.

DOMRADIO.DE: Kommt das bei den Leuten auf der Straße an? Stehen die hinter dieser kirchlichen Argumentation?

Elsner: Das ist schwer zu sagen, weil wir seit vielen Jahren fast keinen Zugang mehr zu den Menschen vor Ort haben. Wir bekommen verschiedene Bilder aus Russland. Zum einen aus den großen Städten wie Moskau oder Sankt Petersburg, wo protestiert wird. Zum anderen erreichen uns erschreckende Bilder aus den ländlichen Regionen, wo viele Menschen den Krieg unterstützen. Ich glaube, dass der Umgang mit den Medien und Informationen ein anderer ist und die Propaganda auf dem Land in Einheit mit der Kirche stärker wirkt als in den säkularen Städten. Das ist aber gar nicht so einfach zu sagen.

Mein Eindruck ist, dass ein großer Teil der Bevölkerung hinter der kirchlichen Begründung und hinter dem Krieg steht. Es gibt aber auch einen anderen Teil der Bevölkerung - und in den letzten Tagen haben wir die Hoffnung bekommen, dass dieser Teil gar nicht so klein ist, der diesen Krieg kritischer sieht, der den Krieg nicht unterstützt und vielleicht sogar der Meinung ist, dass der Krieg eine völlige Fehlentwicklung Russlands ist und damit ein moralischer Untergang des Landes einhergeht. Aber von diesem Teil in Russland sehen wir von außen eher wenig.

Prof. Dr. Regina Elsner

"Ein Märtyrer ist jemand, der gezielt für seinen Glauben an Christus getötet wird. Das gilt für Nawalny sicher nicht."

DOMRADIO.DE: Ihr Hoffen bezieht sich auf die Menschen, die zur Beerdigung von Alexej Nawalny auf die Straßen gegangen sind. Von Nawalny wird als ein Märtyrer der Regimekritiker gesprochen. Wie stehen sie zu dieser Bezeichnung?

Elsner: Ich halte diesen Begriff des Märtyrers für problematisch, weil er eine bestimmte religiöse Bedeutung trägt. Ein Märtyrer ist jemand, der gezielt für seinen Glauben an Christus getötet wird. Das gilt für Nawalny sicher nicht. 

Trotzdem zeigt die Diskussion darum, ob man Nawalny als Märtyrer oder gar als Heiligen bezeichnet, dass die Bevölkerung eine Sehnsucht nach so einer Identifikationsfigur, einer Art Lichtgestalt in all dem Dunkel der letzten Jahre in Russland zu haben scheint. Dort kommt die Bezeichnung her. Ich glaube, dass man an der Beerdigung sieht, wie groß die Identifikation vieler Menschen mit Nawalny ist. So umstritten er im Laufe seines Lebens auch gewesen sein mag.

DOMRADIO.DE: Der katholische Erzbischof von Moskau, Paolo Pezzi, hat ebenfalls an der Jubiläumsfeier Kyrills teilgenommen. Andererseits kritisiert die russisch-orthodoxe Kirche in harschen Worten das vatikanische Segensdokument "Fiducia supplicans". Man bekommt den Eindruck, die katholische Kirche sitzt in Russland zwischen den Stühlen.

Elsner: Die katholische Kirche in Russland steckt auf jeden Fall in einer schwierigen Situation. Die Religionsfreiheit wird von Russland in keiner Hinsicht geachtet. Das heißt, alle Religionsgemeinschaften stehen in ständiger Gefahr, bestraft oder verboten zu werden. Es gab sogar schon Ausreiseanordnungen für katholische Priester. Die Kirche steht in Russland unter hohem politischen Druck, wenn sie sich kritisch äußert oder nicht loyal zeigt.

Prof. Dr. Regina Elsner

"Alle Kirchen sprechen sich gegen den Krieg aus, aber keine wird zugeben, dass ein Grund für den Krieg auch die antiliberale Ideologie ist, wie sie auch in Russland herrscht und die die Kirchen vor sich hertragen."

Ihr Hinweis auf die Kritik an Rom ist auch richtig und wichtig. Die katholische Kirche in Russland ist ähnlich wie in anderen osteuropäischen Ländern sehr, sehr konservativ. Das heißt, dass sie in diesen zivilisatorischen Debatten viel näher an der russischen Sicht ist als an unserer Sicht in Deutschland. Das macht es für die katholische Kirche in Russland noch komplizierter, sich in diesem Krieg zu positionieren.

Alle Kirchen sprechen sich gegen den Krieg aus, aber keine wird zugeben, dass ein Grund für den Krieg auch die antiliberale Ideologie ist, wie sie auch in Russland herrscht und die die Kirchen vor sich hertragen. Deswegen ist die Position der katholischen Kirche sehr kompliziert und von außen erst recht nicht einfach zu beurteilen.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Hintergrund: Patriarch Kyrill I. rechtfertigt Krieg gegen die Ukraine

Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I. hat den Angriffskrieg gegen die Ukraine mehrfach verteidigt. Er rechtfertigte ihn etwa als "metaphysischen Kampf" im Namen "des Rechts, sich auf der Seite des Lichts zu positionieren, auf Seiten der Wahrheit Gottes, auf Seiten dessen, was uns das Licht Christi, sein Wort, sein Evangelium offenbaren".

Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I. / © Natalia Gileva (KNA)
Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I. / © Natalia Gileva ( KNA )
Quelle:
DR