Der Ochse steht diesmal am Marienberg in Neviges. 20 Kinder stoppen, laufen, stoppen, laufen – so lange, bis der Berg endlich erreicht ist. Die kleine grüne Wiese ein paar Meter abseits des Fußwegs und eingerahmt von Fels und Bäumen ist an Christi Himmelfahrt eine Freiluft-Kita. Hier wird der Nachwuchs bespaßt, damit die Eltern beim Pilgern ihre Ruhe haben. Die erste Familienwallfahrt sollte beides gleichermaßen sein: Glaube und Unterhaltung, für Erwachsene wie für Kinder.
Damit das gelingt, braucht es Helfer. Katrin Chilinski beaufsichtigt mit anderen Jugendlichen die Kinder. Sie hat gerade Zeit für eine Pause, steht am Rand, schaut zu. Das Programm, das sie sich mit anderen ausgedacht hat, funktioniert. Ihr Plan: Wer sich jetzt beim Spielen austobt, ist nachher beim Gottesdienst nicht so unruhig. Die 17-Jährige kommt aus Bochum, Neviges fühle sich aber mittlerweile wie ein zweites Zuhause an. Über Freunde der brennenden Herzen, einer Gebetsgemeinschaft von Jugendlichen für Jugendliche, ist sie vor ein paar Monaten auf den Wallfahrtsort Neviges gekommen und nun regelmäßig zu Besuch. "Jeder ist hier willkommen. Egal ob jung oder alt, dick oder dünn", erzählt sie. Auch die Konfession spiele keine Rolle. "Man lernt von anderen immer etwas dazu." Der Glaube verbinde und stärke sie im Alltag. "Da hat man es nicht immer leicht."
Den Glauben fassen und ihn vergegenwärtigen
Egal, mit wem man spricht: Neviges ist ein Ort, an dem jeder auf seine Weise Kraft tankt. Die sechsköpfige Familie von Kerstin und Daniel aus Düsseldorf nutzt den Tag für einen kleinen Familienurlaub. Mit Rucksäcken und Proviant haben sie, wie die anderen rund 40 Familien, am Nachmittag den Marienberg erklommen. Während die Eltern ein Picknick vorbereiten, springen die Kinder über die Sitzbänke, rennen mit Stöcken und Spielzeug herum. "Die Gegend hier ist wunderschön, wir sind mitten in der Natur", sagt Kerstin. Aber geht es nur darum, mal rauszukommen? Wozu ist eine Wallfahrt gut? "Im normalen Leben neigt man dazu, sich von Gott zu entfernen. Wallfahrten helfen, den Glauben zu fassen und ihn zu vergegenwärtigen." Der Marienberg ist für die Familie aber noch aus einem anderen Grund ein wichtiger Ort. "Hier haben wir uns verlobt", erzählt Daniel.
Etwa 700 Meter weiter, den Berg über Schotter hinunter, durch eine Unterführung und schmale Gassen des Ortes wieder hinauf, füllt sich langsam der Platz vor dem Mariendom. Zwei junge Frauen aus China stehen vor einem kleinen Modell der 1968 errichteten Wallfahrtskirche. Die moderne Betonkonstruktion mit ihrem unregelmäßigen und verschachtelten Grundriss wirkt so gar nicht wie ein Sakralbau, mehr wie einer Veranstaltungshalle oder eine steingewordene Zeltstadt, sagen die beiden auf Englisch. Sie arbeiten derzeit in Kopenhagen und nutzen das lange Wochenende für einen Trip zu christlichen Bauwerken in der Region. Konrad Schmidt, der an einem Stand über die Theologie des Leibes von Papst Johannes Paul II. informiert, merkt ihnen ihr Interesse an. Ob sie eine Führung möchten? Die Frauen sind begeistert, stimmen sofort ein. Mehr als eine Stunde spazieren sie durch den Dom. Vom Bodenbelag, der einer Pilgermuschel nachempfunden ist, bis zu den meterhohen Rosenfenstern, die das dunkle Innere in buntes Licht tauchen. Dann reicht es aber auch. Es geht weiter nach Köln, den nächsten Dom besichtigen.
Ein anderer hat sich gerade in die Gegenrichtung aufgemacht. Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki verbringt Christi Himmelfahrt nicht am Rhein oder auf dem Stuttgarter Katholikentag, sondern hält den Gottesdienst im Mariendom. Dass die Wallfahrtspilger sich darüber freuen, daraus machen sie kein Geheimnis. Später werden sie im Gottesdienst applaudieren, anschließend noch mehr als eine Stunde mit ihm private Gespräche auf dem Vorplatz führen. "Wir sind spontan hierhin, auch weil Kardinal Woelki vorbeikommt. Ihn sieht man bei uns nicht so oft", sagt Christoph Beine aus Düsseldorf. Statt für eine Vatertagstour mit Bollerwagen hat er sich für den Familienausflug nach Neviges entschieden. "Alles hat seine Zeit", sagt er mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht.
Woelki: Den Zusammenhalt spüren
Nun ist es Zeit für Glauben. Rund 500 Menschen sitzen und stehen im Mariendom. So voll war es hier schon lange nicht mehr. Das ist auch das, worüber sich Woelki am meisten freut. "Endlich mal wieder vor vielen Menschen predigen und den Zusammenhalt spüren", sagt er. Eine Etage tiefer, in der Krypta, haben sich die Kinder versammelt und feiern einen eigenen kleinen Gottesdienst, in dem sie die Gaben für den großen vorbereiten. Während sie mit Gitarrenbegleitung singen und altersgerecht erklärt bekommen, was Christi Himmelfahrt bedeutet, ruft Kardinal Woelki in seiner Predigt dazu auf, mutig für Gott einzustehen. "Wir sind aufgerufen, Zeugen zu sein. Das ist gerade heute bitter notwendig, denn viele unserer Zeitgenossen schauen nicht mehr nach oben, sondern nach unten. Sie suchen die Vollendung des Lebens in dieser Welt. Doch der Himmel ist das eigentliche Ziel unseres Lebens, dahin sind wir unterwegs."
Genau darum ging es auch in den Diskussionsrunden am Vormittag. "Wir hören ja allerorts, wie schwierig es bestellt ist um unsere Kirche. Gerade im Rahmen des Katholikentages wird ja ständig natürlich auch wieder von der großen Kirchenkrise gesprochen. Und die Frage, die uns ja irgendwie alle angeht, ist, wie wir in unserem Umfeld von der Kirche gut sprechen können. Wir diskutieren gemeinsam darüber, wie wir heute in der Öffentlichkeit von unserem Glauben Zeugnis ablegen können", sagt Mariendom-Seelsorger Abbé Phil Dieckhoff.
Dass die Familienwallfahrt als solche gelebt wird, zeigt auch der Gottesdienst. Nicht die Messdiener, sondern die Kinder bringen die Gaben zum Altar. Stolz überreichen sie Woelki ein Bild, das sie in den vergangenen Stunden gemalt haben. Bei der Marienweihe, wenn sich alle in dem kleinen Nebenbau versammeln, stehen die Kleinen direkt am Gnadenbild. Abbé Dieckhoff ist zufrieden. "Es ist schön, wenn die Familien ungezwungen herumlaufen und diese spirituelle Atmosphäre spüren können", erzählt er. Ob es eine Neuauflage der Familienwallfahrt geben wird? "Da bin ich mir ziemlich sicher." Am liebsten wieder an Christi Himmelfahrt, mit Freiluft-Kita, Picknick und Ochs am Marienberg. Auch Katrin Chilinski wäre wieder dabei. "Es lohnt sich immer, nach Neviges zu fahren", sagt sie.