Feindesliebe in Zeiten des Ukraine-Krieges

"Gott hat keine bösen Menschen erschaffen"

Trotz des russischen Angriffskrieges versucht der Rektor der katholischen Uni in Lwiw, Marynovych, den Studierenden einen normalen Alltag zu ermöglichen. Zu Feindesliebe könnten sich viele Gläubige in der Ukraine nicht durchringen.

 (DBK)

Myroslav Marynovych ist Rektor der katholischen Universität in Lemberg (LWIW). Als ehemaliger politischer Gefangener in der UdSSR hat er seinen eigenen Blick auf Russland und die Aggressionen gegen sein Heimatland Ukraine.

DOMRADIO.DE: Seit einem Jahr dauert der Krieg an: Sie leben im Westen der Ukraine, wie erleben Sie den Alltag in Lwiw (Lemberg)?

Myroslav Marynovych (stellvertr. Rektor der Ukrainischen Katholischen Universität Lemberg): Die Situation verändert sich ständig. Zu Beginn des Krieges im März 2022 haben wir einen Ansturm von Geflüchteten und Vertriebenen aus dem ganzen Land erlebt. Vor allem rund um den Bahnhof war es sehr voll und der Krieg war sehr präsent.

Ukrainer im Bunker / © Francesca Volpi (KNA)
Ukrainer im Bunker / © Francesca Volpi ( KNA )

Mittlerweile ist es ruhiger geworden. Auch in Lwiw erleben wir Raketenangriffe, aber nicht täglich. Dann heulen die Sirenen und die Menschen suchen Schutz in Kellern oder Bunkern. Aber wir versuchen, ein normales Leben trotz des Krieges aufrechtzuerhalten. Zum Beispiel an unserer Universität: Wir wollen nicht, dass der Krieg den jungen Menschen den Zugang zu Bildung versperrt. Darum versuchen wir, die Vorlesungen und Kurse so gut wie möglich aufrecht zu erhalten. In unserer Universität werden Sie Studenten sehen, die ganz normal durch die Flure laufen und Seminare besuchen, auch wenn die Umstände natürlich alles andere als normal sind.

Myroslav Marynovych (stellvertr. Rektor der Ukrainischen Katholischen Universität Lemberg)

"Wir wollen nicht, dass der Krieg den jungen Menschen den Zugang zu Bildung versperrt."

DOMRADIO.DE: Sie haben Ihre persönlichen Erfahrungen mit Russland: Sie wurden sieben Jahre als politischer Häftling in der UdSSR gefangen gehalten. Was bedeutet es für Sie, dass ausgerechnet die die Nachfolger der UdSSR jetzt die Ukraine bombardieren?

Marynovych: Es gab Zeiten da dachte ich, meine Generation wäre die letzte, die unter den Russen zu leiden hat. Nach 1991 glaubten wir alle, dass sich die Sowjet-Staaten demokratisieren und sich alles zum Besseren wenden würde. Die Ukraine hat den Weg der Demokratisierung begonnen, auch wenn bei uns noch nicht alles perfekt ist. Aber Russland hat sich in die entgegengesetzte Richtung bewegt und wurde immer autokratischer. Ich habe den Eindruck, die Russen verhalten sich genauso wie schon zur Zeit der Zaren oder später unter Stalin: Mit derselben Brutalität und Grausamkeit wie heute in der Ukraine gingen die russischen Soldaten schon vor 100 Jahren vor.

Bundespräsident Steinmeier mit Präsident Putin in Moskau / © Bernd von Jutrczenka (dpa)
Bundespräsident Steinmeier mit Präsident Putin in Moskau / © Bernd von Jutrczenka ( dpa )

DOMRADIO.DE: War es also naiv von den Westeuropäern, mit Putin Handel zu betreiben und zu denken, das würden einen stabilen Frieden schaffen?

Marynovych: Es war ein Fehler zu denken, ein Reich wie die Sowjetunion würde sich einfach in eine Demokratie verwandeln. Und es war meiner Meinung nach auch zu idealistisch zu erwarten, dass diese Formel „Wandel durch Handel“ funktionieren würde, wenn beide Seiten profitieren würden. Aber Russland will keine „win-win-Situation“, sondern Dominanz.

Myroslav Marynovych (stellvertr. Rektor der Ukrainischen Katholischen Universität Lemberg)

"Mit derselben Brutalität und Grausamkeit wie heute in der Ukraine gingen die russischen Soldaten schon vor 100 Jahren vor."

DOMRADIO.DE: Sie waren von 1977 bis 1984 in einem sowjetischen Arbeitslager gefangen. Dort haben Sie – das haben Sie einmal gesagt - erst richtig verstanden, was der Spruch "Liebe deine Feinde" bedeutet. Inwiefern? Und gilt das heute für Sie immer noch?

Marynovych: Damals dachte ich über meine Situation nach und mir wurde klar, dass ich mich trotz allem nicht von dem Hass überwältigen lassen wollte. "Was ist mit meinem Glauben?", fragte ich mich und begann zu beten, denn ich wollte kein Mann des Hasses werden.

Heute gibt es in der Ukraine große Diskussion darüber, wie wir mit den Russen umgehen sollten. In dieser Lage Feindesliebe zu fordern, wäre vielleicht nicht so passend, sicherlich sogar schmerzhaft für Viele. Trotzdem bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass Gott keine bösen Menschen erschaffen hat, sondern dass bestimmte Situationen oder Instinkte sie geformt haben. Sie können sich entscheiden, schlecht werden aber sie könne auch wieder umkehren und Verantwortung für ihre Taten übernehmen.

Myroslav Marynovych (stellvertr. Rektor der Ukrainischen Katholischen Universität Lemberg)

"In dieser Lage Feindesliebe zu fordern, wäre vielleicht nicht so passend, sicherlich sogar schmerzhaft für Viele."

DOMRADIO.DE: In Deutschland wurde lange über Waffenlieferungen an die Ukraine diskutiert. Es gab Zögern seitens der Regierung, auch aus Sorge, noch stärker in den Krieg gegen Russland hineingezogen zu werden. Wie haben Sie das in der Ukraine verfolgt?

Marynovych: Ich habe die Logik der Deutschen verstanden und auch, dass sie sich aus historischen Gründen darauf nicht leichtfertig einlassen wollten. Aber für uns Ukrainer war das sehr schmerzhaft. Es ging schließlich um Selbstvereidigung. Wir wollten keine Panzer, um ein Land zu erobern, sondern um unsere Nation, die angegriffen wurde, zu verteidigen. Wenn die Ukraine untergeht, ist das ein Schlag für die Demokratie insgesamt, weil Autokraten in der ganzen Welt ihr Gewaltprinzip bestätigt bekämen. Das kann Deutschland doch nicht wollen?

DOMRADIO.DE: Aber es gibt in Deutschland viele Menschen, die Angst vor einer nuklearen Eskalation und einem erneuten Weltkrieg haben und die nicht daran beteiligt sein wollen. Ist das für Sie nachvollziehbar?

Marynovych: Da kann ich nur den US-amerikanischen Historiker Timothy Snyder von der Yale University zitieren, der die russischen Drohgebärden exzellent analysiert hat: Russland wollte mit einer nuklearen Erpressung erreichen, dass die westlichen Demokratien keine Waffen an die Ukraine liefern.

Wenn ein Staat mit seinem Atomarsenal andere unter Druck setzen kann, dann wird Außenpolitik unmöglich. Russland und andere Staaten werden sich ermuntert fühlen, ihre Interessen immer wieder in der ganzen Welt gewaltsam durchzusetzen, nach dem Motto: "Entweder du gehorchst uns oder ich töte dich!" Wir müssen und auch mal überlegen, in was für einer Welt wir künftig leben wollen. Diese Einschüchterung und Angst machen mir fast noch mehr Sorgen.

Das Interview führte Ina Rottscheidt

Quelle:
DR