Franziskus fordert Stärkung der Gemeinschaft und Solidaritätsaufbau

"Welt-Opa" und Anwalt des Volkes

Bei seinem Korsika-Besuch am Sonntag fühlte sich der Papst angesichts zahlreicher Beispiele gelebter Volksfrömmigkeit und vieler Kinder richtig wohl. Gleichzeitig wurde einmal mehr deutlich, dass Franziskus älter wird.

Autor/in:
Roland Juchem
Papst Franziskus in der Kathedrale von Ajaccio / © Vatican Media/Romano Siciliani (KNA)
Papst Franziskus in der Kathedrale von Ajaccio / © Vatican Media/Romano Siciliani ( KNA )

Am Dienstag vollendete Jorge Mario Bergoglio sein 88. Lebensjahr. Und schon seit längerem verhält der seit bald zwölf Jahren amtierende Papst sich wie ein Großvater. "Welt-Opa" nannte ihn im Sommer ein italienischer Komiker. Franziskus ist auf jeden Fall ein Familienmensch - wohl auch ein Grund, weshalb er im Gästehaus Santa Marta wohnt.

Ansprachen mit Anekdoten und Ermahnungen

Papst Franziskus wird von Gläubigen vor dem Baptisterium St. Jean in Ajaccio während seines eintägigen Besuchs auf der französischen Insel Korsika begrüßt. / © Alessandra Tarantino (dpa)
Papst Franziskus wird von Gläubigen vor dem Baptisterium St. Jean in Ajaccio während seines eintägigen Besuchs auf der französischen Insel Korsika begrüßt. / © Alessandra Tarantino ( dpa )

Fast jedes Mal, wenn er auf junge Menschen trifft, ermahnt er sie mit dem Bild vom Baum der Generationen ihre Wurzeln nicht zu vergessen. "Die Alten sind die Wurzeln, ihr seid die Zweige. Ohne Wurzeln könnt ihr nicht knospen und blühen", sagt er immer wieder nahezu wortgleich.

Das tut er vor allem dann, wenn er vom Manuskript abweicht und gut gelaunt zu plaudern beginnt. Anders als seine Vorgänger hat er das von Beginn an getan und macht es mit zunehmendem Alter immer öfter; am vergangenen Sonntag auf Korsika in zwei seiner drei Ansprachen ausführlich - mit Anekdoten und Ermahnungen, die Vatikanbeobachter inzwischen auswendig können. Das Zeitprogramm des Tagesausflugs auf die französische Mittelmeerinsel geriet auch deswegen etwas in Verzug.

"Eine Gnade Gottes"

Aber auch weil das Papamobil auf den von Schaulustigen und Gläubigen gefüllten Straßen Ajaccios mehrfach und länger stoppte, damit der Papst Dutzende Babys und Kleinkinder, die ihm gereicht wurden, segnen, küssen und über den Kopf streicheln konnte. Begleitet von Süßigkeiten und Rosenkränzen für die Eltern. Für manchen hat das Bild eines älteren Klerikers, der kleine Kinder herzt, inzwischen etwas Ambivalent-Fragwürdiges. Eher nicht in Ajaccio. Für Eltern und Angehörige der Kleinen war es eine Ehre, eine Wertschätzung. Die Franziskus in seiner Predigt - wiederum abweichend vom Manuskript - bestätigte.

Frankreich, Ajaccio: Papst Franziskus zündet eine Kerze an, während er vor der Statue der Jungfrau Maria in Ajaccio betet, anlässlich seines eintägigen Besuchs auf der französischen Insel Korsika. / © Alessandra Tarantino/AP (dpa)
Frankreich, Ajaccio: Papst Franziskus zündet eine Kerze an, während er vor der Statue der Jungfrau Maria in Ajaccio betet, anlässlich seines eintägigen Besuchs auf der französischen Insel Korsika. / © Alessandra Tarantino/AP ( dpa )

"Glückwunsch! Noch nie habe ich so viele Kinder gesehen wie hier! Das ist eine Gnade Gottes!", sagte er. "Liebe Brüder und Schwestern, bekommt Kinder, bekommt Kinder, die eure Freude und euer Trost in der Zukunft sein werden", ermunterte er junge Paare. Die Menge quittierte es mit Lachen - zumal das italienische "fate figli!" (macht Kinder!) direkter ist als das deutsche "bekommt Kinder!"

Noch sichtlich beeindruckt von den Begegnungen fragte der Papst die mitreisenden Journalisten auf dem Rückflug: "Haben Sie gesehen, wie viele Kinder dort waren? Ich war glücklich, ein Volk zu sehen, das Kinder macht. Das ist die Zukunft." Womit er an eines seiner ebenfalls oft vorgetragenen Anliegen rührte: Europas demografischen Winter.

Volksreligiosität im Fokus

Hauptthema der Korsika-Reise war Volksreligiosität. Von ihr pflegt Franziskus ein Ideal, auch wenn er die Gefahren von purer Folklore, Aberglaube oder exklusiver Vereinsmeierei klar benannte. Christlicher Glaube sei eben kein abstraktes Denken. Er komme vielmehr "in der Kultur, der Geschichte und den Sprachen eines Volkes zum Ausdruck" und werde "durch Symbole, Bräuche, Riten und Traditionen einer lebendigen Gemeinschaft weitergegeben".

Lebendige Volksfrömmigkeit ist für Franziskus ein notwendiges Korrektiv sowohl zu verknöchertem Traditionalismus wie gegen intellektuell abgehobene Theologie. Gleichzeitig bietet die "Teologia popular", mit der Franziskus aufwuchs, unterhalb der offiziellen kirchlichen Liturgie niedrigschwellige Formen, auch Fernstehende aller Art mitzunehmen, zu beteiligen und zu segnen. Ein Aspekt, den Kardinal Victor Fernández, Leiter der vatikanischen Glaubensbehörde, einmal betonte, um die Erklärung "Fiducia supplicans" zur Segnung auch homosexueller Paare zu rechtfertigen.

Gläubige begrüßen Papst Franziskus bei seiner Ankunft vor der Kathedrale Notre-Dame-de-l’Assomption anlässlich seines eintägigen Besuchs auf der französischen Insel Korsika / © Alessandra Tarantino (dpa)
Gläubige begrüßen Papst Franziskus bei seiner Ankunft vor der Kathedrale Notre-Dame-de-l’Assomption anlässlich seines eintägigen Besuchs auf der französischen Insel Korsika / © Alessandra Tarantino ( dpa )

In Lateinamerika, aber auch im romanischen Raum Europas spielen zudem Bruderschaften (von Männern und Frauen) eine wichtige Rolle. Sie organisieren Prozessionen und Andachten, kümmern sich um sozial-karitative Aufgaben und bereichern das Leben vor Ort auch kulturell. Bei der Messe auf Ajaccios Place d'Austerlitz waren sie in ihren Roben und Umhängen überall sichtbar, übernahmen mit dem traditionell-polyphonen Gesang ihrer Insel liturgische Gesänge wie Kyrie oder Agnus Dei.

Derart lebendige vielfältige Volksfrömmigkeit lasse sich, so betonte der Papst mehrfach, gut mit einer flexiblen, "gesunden Laizität", die die Rechte der jeweiligen Sphären wahrt, vereinbaren. Auch ein säkularer Staat brauche eine "konstruktive Bürgerschaft von Christen".

Volk entsteht durch Engagement 

Für Franziskus' Vorstellung von Volksfrömmigkeit ist auch sein Verständnis von "Volk" wichtig. Demnach ist ein Volk mehr als die Summe auf sich selbst bedachter Individuen. Sein Reden über das Volk dient als Erinnerung an "soziale Phänomene, die Mehrheiten strukturieren (...) Megatrends und Gemeinschaftsbestrebungen (...) gemeinsame Ziele, jenseits von Unterschieden", wie er in seiner Enzyklika "Fratelli tutti" schreibt. Es ist "sehr schwierig, etwas Großes langfristig zu planen, wenn man es nicht zu einem kollektiven Traum werden lässt", fügt er hinzu.

Für Franziskus, so Kardinal Matteo Zuppi in einem Gastbeitrag für die Zeitung "Il Repubblica" am Montag, "sind Völker keine Nationen im Sinne von politisch-kulturellen 'Erfindungen', die Nationalisten schaffen - mit der Behauptung, sie seien ewig -, um verschiedene Völker gegeneinander auszuspielen oder sie intern in ein 'wahres' Volk (uns, die Patrioten) und diejenigen, die es nicht wert sind, dazu zu gehören (sie, die Anti-Patrioten), aufzuteilen". 

Für Franziskus haben Völker eine historische Identität. "Das Volk entsteht in einem Prozess, durch das Engagement für ein gemeinsames Ziel oder Projekt, das über persönliche Interessen und Wünsche hinausgeht" und mehrere Generationen umfasst.

Der Aufbau der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Volk ist für Franziskus langsame und mühsame Arbeit, man muss sich integrieren wollen und lernen, dies zu tun, auch um "eine Kultur der Begegnung in einer pluriformen Harmonie entwickeln". "Die Verwendung dieses Wortes ist, kurz gesagt, eine Möglichkeit - sicher nicht die einzige -, das Wort 'Nächster' zu deklinieren."


"Eine Krise der Solidarität"

Franziskus, so betont Zuppi weiter, sei der erste Papst, der mit dem neuen Phänomen einer weltweiten Krise der Demokratie konfrontiert ist. Den Grund dafür sieht er in einer Erosion von Volk und Eliten. "Was die Eliten betrifft, so ist es heute schwer vorstellbar", schreibt Zuppi, "dass es - um mit den Worten Pius' XII. zu sprechen - Männer und Frauen gibt, die 'geistig hochstehend und von festem Charakter' sind und sich als Vertreter des ganzen Volkes verstehen." (Die "Wahl des geringeren Übels", von der Franziskus mit Blick auf das Duell Donald Trump gegen Kamala Harris sprach, gilt demnach nicht nur in den USA.)

Die Krise der Demokratie sei aber auch eine Krise der Völker, so Zuppi weiter: "eine Krise der Solidarität, die stabile Bindungen schafft, des Bewusstseins eines gemeinsamen Schicksals, des Willens, ein gemeinsames Haus für die kommenden Generationen zu bauen, in dem die Schwächsten besonders berücksichtigt werden". 

Womit man wieder bei den päpstlichen Appellen zu Kindern, alten Menschen, Armen und Migranten ist. Franziskus - dessen spontane weltpolitische Äußerungen von seinem diplomatischen Apparat oft wieder eingefangen werden müssen - versteht sich als Anwalt des Volkes. Weswegen er beim Angelus am Sonntag auf Korsika die Gottesmutter um Beistand auch für "das russische Volk" bat, nicht nur für das ukrainische.

Heiliges Jahr 2025

Ein einfaches, freies, an kulturellen und religiösen Traditionen reiches und solidarisches Volk ist für Franziskus Puffer gegen Ideologien und Korrektiv der Regierenden. So wie innerkirchlich das "heilige Volk Gottes" ein Korrektiv gegen Klerikalismus und überzogene Hierarchie ist; dort allerdings nicht in einer demokratischen, sondern synodalen Kirche.

Inwieweit der nunmehr 88-jährige "Großvater" und "Volksseelsorger" auf dem Stuhl Petri diese Anliegen in seinem weiteren Pontifikat vermitteln kann, ist offen. "Was kann er noch Neues sagen?", fragen sich viele. Und so werden Franziskus' bekannte, meist ja durchaus wichtige Appelle im anstehenden Heiligen Jahr 2025, wenn Millionen zusätzlich nach Rom kommen, noch öfter zu hören sein.

Quelle:
KNA