DOMRADIO.DE: Sie sind in Friedrichroda in Thüringen geboren und aufgewachsen. Ihre Eltern waren Tanzlehrer. Das war für die SED vermutlich erst einmal unverdächtig. Wie haben Sie damals zum Glauben und zur Kirche gefunden?
Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen, MdB und ehemalige Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland): Einerseits durch meine Mutter, die schon in ihrer Jugend nicht nur im Christenlehreunterricht, das war der Religionsunterricht in der DDR, und im Konfirmationsunterricht war, sondern auch Mitglied in der Jungen Gemeinde war und deswegen kein Abitur machen durfte. Aber vor allen Dingen dadurch, dass ich selber als Konfirmandin war und mich später in der Jungen Gemeinde sowohl kirchlich als auch politisch engagiert habe.
DOMRADIO.DE: Junge Gemeinde, das war ja in der DDR viel mehr als die Jugendarbeit der Kirchen hier im Westen. Die SED nannte die Junge Gemeinde sogar mal Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage. Was haben Sie und Ihre Mitstreiter denn da gemacht?
Göring-Eckardt: Gebetet, gesungen und uns auch politisch informiert und engagiert. Wir haben vor allen Dingen miteinander diskutiert. Man kann sich ja vorstellen, dass wir da keine Demonstrationen veranstaltet haben, das ging nun wirklich erst im Herbst 1989. Aber ein Beispiel ist der Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" mit dem Denkmal, das vor der UN steht. Das war uns sehr wichtig und entsprach eigentlich auch der Ursprungsidee der DDR. Der Aufnäher musste aber wieder von den Jacken abgetrennt werden. Daran konnte man dann sehen, dass da eine Lücke war und jeder wusste, da war mal der Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" dran.
Die Fragen der Friedenspolitik und des Umweltschutzes haben eine Rolle gespielt - nicht nur die Braunkohleheizung, sondern auch der Uranbergbau und vieles andere. Dreckige Flüsse und die Frage der Freiheit haben uns beschäftigt. Die Frage der Freiheit ist und bleibt der entscheidende Schritt aus der DDR heraus. Ich würde sogar sagen, das war der Auszug aus der Angst, dass Menschen gesagt haben: Das wollen wir nicht mehr. Wir wollen nicht mehr unfrei hier leben.
DOMRADIO.DE: Wie öffentlich sind Sie damals mit dem Christsein umgegangen? Wägt man da nicht auch die Vor- und Nachteile ab?
Göring-Eckardt: Man muss sich das so vorstellen, dass wir häufig so eine Art schizophrene Kommunikation durchgeführt haben. Meine Mutter, die nicht wollte, dass es mir so geht wie ihr, dass ich von der Schule fliege, hat immer gesagt: Du kannst zu Hause alles sagen, aber nicht da draußen. Trotzdem war völlig klar, sobald man den Schritt macht, sich in der Jungen Gemeinde zu engagieren, blieb das nicht mehr geheim.
Insofern war das für mich als Jugendliche immer der Versuch, beides zu machen. Ich habe mich an der Jugendweihe beteiligt, war sogar Mitglied in der Freien Deutschen Jugend, in der FDJ, der Jugendorganisation der SED. Weil ich fand, dass das Land verändert werden muss. Ich wollte weder ausreisen, noch wollte ich mich der alten Bundesrepublik anschließen, sondern ich wollte das Land, in dem ich lebe, verändern.
DOMRADIO.DE: Sie haben dann in Leipzig Theologie studiert. Wie haben Sie den immer stärker werdenden Widerstand der Menschen miterlebt?
Göring-Eckardt: Auch in verschiedenen Oppositionsgruppen, in denen ich damals Mitglied war, wie gesagt sehr jung, aber auch, indem wir andere befragt haben. In einem religions-soziologischen Seminar haben wir die kirchlichen Oppositionsgruppen und Personen darauf befragt, was sie eigentlich antreibt und was sie motiviert.
DOMRADIO.DE: Und dann kam dieser berühmte 9. November 1989. Wie haben Sie damals davon erfahren, dass die Mauer auf ist?
Göring-Eckardt: An einen kaputten Fernseher, der nur mit einer Stopfnadel betrieben werden konnte, weil der Schalter kaputt war. Mit meinem gerade geborenen Sohn, der am 6. September geboren ist, im Arm auf dem Sofa. Mir ist es übrigens ein wichtiger Punkt, dass wir keinen sogenannten Mauerfall hatten. Das Ding war nicht baufällig. Vielmehr haben die Leute irgendwann gesagt, wir machen das nicht mehr mit, wir ertragen das nicht mehr und wollen frei sein.
Dann ist die Angst von den Menschen, die auf der Straße waren, zu den Menschen im Staatsapparat übergegangen. Deswegen war das ein wichtiger Befreiungspunkt. Aber es war natürlich auch der Endpunkt einer eigenen Entwicklung, einer eigenen Reform, einer eigenen politischen Revolution in der DDR.
DOMRADIO.DE: Aber das, was Sie in dem kaputten Fernseher gesehen haben an diesem 9. November, haben Sie das sofort auch als das registriert, was es dann tatsächlich war?
Göring-Eckardt: Das konnte man ja nicht so genau wissen, ob nicht alles wieder rückwärts geht. Ich bin trotzdem nicht sofort an die Grenze gefahren. Von Thüringen aus ist das eigentlich nicht weit, sondern ich bin am nächsten Tag wieder zur Demonstration nach Arnstadt gefahren. Da waren wir dann nicht mehr ganz so viele wie vorher. Aber mir war wichtig, dass wir weitermachen, weiter nachdenken, in welchem Land wir eigentlich leben wollen.
DOMRADIO.DE: Am kommenden Wochenende begehen wir jetzt also den 30. Jahrestag der Maueröffnung. Was bedeutet das für Sie persönlich?
Göring-Eckardt: Freiheit. Das ist das alles Entscheidende. Ich hätte mir nie denken, erahnen können noch erträumt, dass ich irgendwann mal Mitglied des Deutschen Bundestages sein könnte. Politik machen in einem freien, demokratischen Land - Wahnsinn! Meine Vorstellung war damals: Ich fange mal an, das Westgeld zu sparen, was mir meine Verwandten so in Zehn D-Mark-Abschnitten geschenkt haben, um vielleicht als Rentnerin einmal in die USA fahren zu können, einmal New York zu sehen. Freiheit ist schon das alles Entscheidende bei allen Widrigkeiten, Schwierigkeiten und bei allen Anfechtungen, die die Demokratie ja gerade heute erfährt.
Das Interview führte Carsten Döpp.