domradio.de: Als ein Beispiel für Vermittlung durch Religion führen Sie die Unruhen in Ruanda im Jahr 1994 an. Warum?
Markus Weingardt (Politikwissenschaftler und Friedensforscher bei der Tübinger Stiftung "Weltethos"): Mancher wird sich vielleicht noch erinnern an diesen furchtbaren Genozid im Jahr 1994, als innerhalb von nur 100 Tagen bis zu eine Million Menschen in einem Gemetzel ums Leben kamen, das vom einen Tag auf den anderen losbrach. Die einzige Bevölkerungsgruppe, die sich damals kollektiv der Gewalt enthielt, waren die ruandischen Muslime - und das in dem damals wohl christlichsten Land Afrikas.
Die Muslime waren es, die sich nicht nur der Gewalt enthielten, nach dem Motto "Wir tun Euch nichts, also tut Ihr uns nichts"; sondern sie haben sich sehr früh und unter Lebensgefahr gegen Gewalt ausgesprochen und engagiert. Auch nach der Eskalation haben sie tausende Flüchtlinge in ihren Dörfern und Häusern versteckt, mit Lebensmitteln versorgt und in Sicherheit gebracht. Damit sind sie ein Beispiel an selbstlosem und mutigem Einsatz für andere, unabhängig der religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit.
domradio.de: Ein Einwand könnte sein: "Das ist nun alles lange her". Nachrichten zu Religion klingen heute anders. Ist Religion also "weniger friedlich" geworden?
Weingardt: Sicher nicht. Erinnern wir uns nur an die Kreuzzüge und die Konfessionskriege im Mittelalter als sich beispielsweise Protestanten und Katholiken jahrzehntelang bekriegt haben. Das Problem dabei sind aber nicht die Religionen. Die religiösen Differenzen sind nicht die Ursachen dieser Konflikte. Religion eignet sich leider Gottes aber sehr gut, um Interessenskonflikte aufzuladen. Die Mächtigen haben schon vor Jahrhunderten erkannt, dass ihre Gewinnchancen in Kriegen exorbitant steigen, wenn es ihnen gelingt, Konflikte aufzuladen, sei es säkular durch Nationalismus und Sozialismus - immer noch die verbreitesten Methoden - oder durch Religion. Dann sind ihre Anhänger hochmotoviert, zu allem bereit und wild entschlossen und das steigert die Siegeschancen. Darum ist es damals wie heute noch ein Anliegen von Mächtigen und Politikern, Konflikte ganz bewusst religiös aufzuladen.
domradio.de: Die angestammte europäische Bevölkerung orientiert ihr Leben immer weniger an religiösen Richtlinien, so hat man den Eindruck. Die Kirchen bedauern das auch immer wieder. Nun kommen Menschen ins Land, die einerseits fliehen müssen, weil sie Christen sind oder eben Menschen, die Religion leben möchten, aber nicht so fanatisch wie in ihren Heimatländern. Ist das vielleicht auch eine Chance dafür, dass Religion generell wieder mehr Raum in der Öffentlichkeit erhält?
Weingardt: Ob das bedeutet, dass Religion mehr Raum in der Öffentlichkeit bekommt, muss man sehen. Es handelt sich dabei auf jeden Fall um eine Chance. Natürlich, wenn Menschen kommen, für die Religion eine größere Bedeutung hat und für die auch die religiöse Praxis eine größere Bedeutung hat, dann muss man das in die Gesellschaft hineintragen, das ist eine große Chance, davon bin ich überzeigt. Eine weitere Chance liegt auch darin, dass mit den Zuwanderern auch Brückenbauer ins Land kommen. Also Menschen, die verschiedene Religionen kennengelernt haben, die sich zu einer bekennen, die vor allen aber auch aus anderen Kulturen kommen; die also ein religiöse Bekenntnis haben, aber verschiedene Kulturen kennen. Dahingehend können sie uns sehr hilfreich sein. Auch den Kirchen können sie sozusagen als Brückenbauer dienen und als Dolmetscher zwischen den Kulturen und nicht nur den Religionen.
domradio.de: Wenn man das alles zusammennimmt, wie muss eine Partei ausgerichtet sein oder wir als Gesellschaft agieren, damit Religion als verbindendes Mittel wirkt und nicht als Konfliktpotenzial?
Weingardt: Parteien sollten so ausgerichtet sein, dass sie Religion nicht mehr als trennenden Faktor betrachten und behandeln. Dann können Religionen auch verbindend wirken. Im gesellschaftlichen Diskurs, in den Medien und zum Teil auch in Parteiprogrammen werden Religionen als trennende Faktoren behandelt. Da gibt es ein paar Fallen und ein paar typische Fehler, die begangen werden, sei es bewusst oder unbewusst im Gespräch über Religionen.
Zum Beispiel, indem aktuell der Islam als ein großer monolithischer und damals auch bedrohlicher Block dargestellt wird. Es gibt ja im Islam genauso viele Strömungen und Konfessionen wie im Christentum. Häufig wird auch der Fehler begangen, Religion und Kultur zu vermischen, etwa in der Debatte um Genitalverstümmelung. Diese wird oft dargestellt als ein Problem des Islams, tritt aber in vielen islamischen Ländern überhaupt nicht auf und wird auch in christlichen Gesellschaften praktiziert.
Das ist ein kulturelles Phänomen, kein rein religiöses. Wenn also Parteien anfangen, die Chance von Religion als ein verbindendes Element zu erkennen und nicht das trennende betonen und wenn auch die Medien dem folgen, dann ist schon eine wichtige Voraussetzung geschaffen, dass Religionen ihre verbundenen Kraft entfalten können. In dem Zuge sind dann natürlich die Religionsgemeinschaften gefordert, diese Chance zu nutzen.
Das Interview führte Carsten Döpp.