Angela Merkel und ihre Erinnerungen "Freiheit". Ein "Schmuckstück", sagt sie.
Und dann findet sich immerhin mal das Wort "Religionsfreiheit". Einmal auf 736 Seiten. Nach längeren, im Regierungs-Sprech gehaltenen Ausführungen zu Indien und Narendra Modi kommt die frühere Bundeskanzlerin zu einem Einzelthema. Es fällt im Lesen fast literarisch auf. "Besorgt verfolgte ich die Berichte, dass seit Modis Amtsübernahme immer häufiger Angehörige anderer Religionen, vor allem Muslime und Christen, von Hindu-Nationalisten angegriffen wurden. … Religionsfreiheit ist ein wesentlicher Bestandteil jeder Demokratie."
Die Passage fällt auf. Vor allem, weil christliche Religiosität oder Spiritualität in dem mit fast wissenschaftlicher Akribie erarbeiteten Buch im Grunde keine Rolle spielen. "Jesus"… kommt nie vor. "Gründonnerstag" immerhin sieben Mal – als quasi säkulare Datumsangabe, dann im Zusammenhang mit der 2021 in Corona-Zeiten hektisch angeordneten, dann gekippten "Osterruhe": "Wer zahlt den Lohnausfall für den Gründonnerstag?"
Im gesamten Buch wird kein deutscher Kirchenvertreter, ob evangelisch oder katholisch, erwähnt. Nicht Wolfgang Huber oder Margot Käßmann, nicht Nikolaus Schneider oder Heinrich Bedford-Strohm, nicht Karl Lehmann oder Reinhard Marx, nicht Paul Bocklet oder Karl Jüsten. Der "deutsche Papst" Benedikt taucht überhaupt nicht auf. Und für Papst Franziskus, den sie fünf Mal traf, bleibt literarisch eine Rolle, um eine Trump-Anekdote unterzubringen. Merkel hatte 2017 Angst, dass die USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen aussteigen würden, und berichtete das dem Heiligen Vater, ohne freilich, so betont sie, diesen Herrn Trump namentlich zu erwähnen. Und dann sagt der Papst: "Biegen, biegen, biegen, aber achten, dass es nicht bricht." Das gefiel der Kanzlerin.
Ach ja. Ich muss mich korrigieren. Ein deutscher Kleriker wird dann doch genannt. Georg Gänswein, von Merkel fälschlicherweise als "Titularbischof" statt "Titularerzbischof" bezeichnet, kommt als Wegbegleiter im Apostolischen Palast vor und hat für Merkel ungefähr so viel Relevanz wie die "Gentiluomini di Sua Santità" (deren Titel dann sogleich Farbe in ihre hier dröge Geschichte bringt).
Warum diese Rabulistik, wer genannt wird und wer nicht? Nun, es wird allen Beteiligten nicht gerecht. Hat Merkel in der Tat nie mit Papst Franziskus über die Flüchtlingsfrage und die europäische Flüchtlingspolitik gesprochen? Hat dieser bei ihr (und anderen Weltpolitikern) nicht deutlich geworben im Vorfeld des Pariser Klimaabkommens vom Dezember 2015? Da, wo die Schilderung ihrer vielen Besuche im Vatikan spannend wäre, schweigt sie komplett.
Die Kirchen waren für die Kanzlerin wichtig, als 2015 hunderttausende Flüchtlinge ins Land kamen. Da engagierten sich Kräfte an der Basis bis zum Umfallen. Ich kannte Leute, die haben später frustriert aufgegeben, weil die Politik die Mittel verweigerte, verantwortungsvoll und mit Volldampf auf Integration zu setzen. Und sicher wäre die Integration nach 2015 besser gelaufen, hätte Merkel den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege richtig kräftig finanzielle Mittel rübergeschoben. Vor allem Caritas und Diakonie, die damals aus dem Geist christlicher Nächstenliebe versuchten zu helfen, da passierte wenig. Das bleibt – wenn man den Begriff mal nennen darf – Merkels Sünde.
Es gilt sicher für beide Büros, evangelisch und katholisch. Wie oft werden sie diese Kanzlerin unterstützt haben… nun findet sich allein der "Titularbischof" im Register, weil er sie zu Franziskus geleitete. Den sie damals brauchte.
Ich weiß nicht einmal, ob dieser Befund eine Aussage zum Bedeutungsschwund von Kirche und Kirchen ist. Sie hat das Buch ausgeruht über lange Zeit geschrieben, mit einer Co-Autorin und Rechercheuren… dann scheint ihr das Thema wirklich persönlich nicht so wichtig. Vielleicht ist das ihre Flucht davor, ansonsten irgendwie den Missbrauchsskandal thematisieren zu müssen. Wer weiß. Aber… warum erwähnt sie dann nicht wenigstens den Missbrauchsskandal oder einen Gedanken an die Opfer?
Schade, dass dieses Buch den Eindruck erweckt, als hätte es viele Aspekte in diesem Merkel-Leben nicht gegeben.
Christoph Strack
Über den Autor: Christoph Strack studierte Theologie in Bonn und Jerusalem. Er lebt heute in Berlin und ist seit über 30 Jahren als Journalist tätig. Seine Themenschwerpunkte sind religiöse Angelegenheiten und damit verbundene politische Entscheidungen, Antisemitismus und die muslimische Gemeinde in Deutschland. Ein besonderes Augenmerk legt Strack auf die beiden deutschen Parteien, die sich auf das Christentum in ihrem Namen beziehen: Die Christlich Demokratische Union (CDU) und ihre bayerische "Schwesterpartei", die Christlich Soziale Union (CSU). Strack ist stellvertretender Leiter des Hauptstadtstudios der Deutschen Welle.