"So wahr mir Gott helfe". Anders als die SPD-Kanzler vor und nach ihr sprach Angela Merkel die Eidesformel ganz selbstverständlich, als sie 2005 als erste Bundeskanzlerin überhaupt vereidigt wurde. Als Tochter eines evangelischen Pfarrers hat sie auch später aus ihrem christlichen Glauben keinen Hehl gemacht, allerdings kaum öffentlich darüber gesprochen. Dass ihre christliche Grundeinstellung aber durchaus die Grundlage ihres politischen Handels war, darüber sind sich ihre CDU-Parteikolleginnen Mechthild Heil und Anja Karliczek einig.
Christlich gefärbte Politik
Beide haben die Kanzlerin im politischen Berlin recht gut kennengelernt, Anja Karliczek als Bundesbildungsministerin im Kabinett Merkel IV, Mechthild Heil als CDU-Bundestagsabgeordnete seit 2009. Als plakativsten Moment der christlich gefärbten Politik Merkels nennen beide ihren Kurs im berüchtigten Flüchtlingssommer 2015, als die Kanzlerin aus humanitärer Motivation heraus die Grenzen für Geflüchtete öffnete und ihr berühmtes "Wir schaffen das!" sprach. Da habe Merkel unbeirrbar am im Grundgesetz verbürgten "Die Würde des Menschen ist unantastbar" festgehalten und sich auch von der gleich zu Beginn einsetzenden harschen Kritik nicht abbringen lassen, betont Ex-Ministerin Karliczek, die heute Präsidentin des Katholischen Deutschen Frauenbundes (KDFB) ist.
Langmütig, konzentriert und fokussiert
Auch Bundespolitikerin Heil, die gleichzeitig Bundesvorsitzende der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd) ist, attestiert Merkel ein klares christliches Wertesystem. "Auf die Gefahr hin, dass das vielleicht pathetisch klingt: Ich habe Angela Merkel als Menschen erlebt, der jeden einzelnen Tag als Geschenk annimmt", so Mechthild Heil, "Das ist das erste, was mir an ihr aufgefallen ist." Wohl aus dieser Haltung heraus sei Merkel als Kanzlerin äußerst langmütig aufgetreten, stets konzentriert und fokussiert. Auch Karliczek beschreibt Merkel als eine Frau von großer innerer Stärke, die sicher auch aus der Gewissheit gerührt habe, eben nicht allmächtig, sondern Teil eines großen Ganzen zu sein.
Beide CDU-Frauen würdigen besonders den Führungsstil der Altkanzlerin, nennen ihn "zugewandt". "Sie hatte uns Ministerinnen und Minister immer gut im Blick", erzählt Anja Karliczek. Einmal sei es beim Verhandeln der Wissenschaftspakte um die Aufstockung der Mittel um 2, 2,5 oder 3 Prozent gegangen. Als sie selbst beim Kabinettsfrühstück als zuständige Ministerin vortrug, was da zur Debatte stand und wie die Bundesländer ins Boot geholt werden könnten, habe Merkel sie "so von der Seite angeguckt" und dann kurz und knapp gesagt: "Drei Prozent?" Sie selbst habe nur genickt – und sich verstanden gefühlt. "Das war ja Frage und Wunsch gleichzeitig - und zeigt einfach, wie sehr sie auf dem Schirm hatte, was auf unserer jeweiligen Agenda stand." Merkel habe immer gewusst, wo sie in den einzelnen Bereichen hinwollte, ohne aber die Freiheit der Kabinettsmitglieder zu beschneiden, für ihre jeweiligen Häuser selbst zu verhandeln und diese zu gestalten. "Das war hohe Führungskunst."
Fürsorglichkeit der Alt-Kanzlerin
Mechthild Heil hingegen ist besonders eine Begegnung im vom Hochwasser verwüsteten Ahrtal im Gedächtnis geblieben. Da besuchte sie gemeinsam mit der Kanzlerin die schwer getroffene Gemeinde Schuld; Heil versuchte Merkel erklären, warum aus ihrer Sicht die Reden und die Realität vor Ort weit auseinanderklafften. "Da hat sie mich fest am Arm gefasst und gesagt: 'Passen Sie gut auf sich auf, Frau Heil!'" Sie sei zunächst irritiert gewesen und habe sich gefragt, ob sie denn einen solch mitleidserregenden Eindruck erweckt habe.
Aber im Nachhinein erkannte sie die Fürsorglichkeit dieser Geste. "Angela Merkel kann Menschen sehr gut lesen; so wie mich in diesem Fall." Außerdem habe sie als Kanzlerin außerordentlich gut und möglichst vielen verschiedenen verschiedene zugehört, erinnert sich Heil. "Sie hat auf Augenhöhe argumentiert, die Intentionen und Belange des oder der jeweils anderen im Blick gehabt und versucht, diese einzubeziehen. Das ist schon eine große Stärke."
Die Rolle der Frau
Als erste Frau im höchsten Regierungsamt der Republik habe Merkel Mädchen und Frauen im Land Mut gemacht, auch darüber sind sich Karliczek und Heil einig. "Sie hat gezeigt, dass es für eine Frau ganz selbstverständlich sein kann, Führungsverantwortung zu übernehmen", meint Anja Karliczek. "Auf der einen Seite war es ein Riesen-Push, weil wir gedacht haben: Endlich sind wir ganz oben angekommen", erklärt Mechthild Heil. "Andererseits zeigt sich jetzt, dass der Unterbau nicht mitgewachsen ist." Einzelne weibliche Leitfiguren wie Angela Merkel oder Ursula von der Leyen änderten eben noch nichts an verkrusteten Parteistrukturen.
"Eine Kanzlerin allein reicht eben nicht, um Frauen zu fördern und stark zu machen, an die Spitze zu kommen", so die kfd-Bundesvorsitzende weiter. "Das ist unter Merkel vernachlässigt worden; wahrscheinlich nicht wegen ihr, sondern wegen der Beharrungskräfte innerhalb der Partei." Und auch wenn Deutschland in Sachen Chancengleichheit für Frauen gesellschaftspolitisch deutlich weiter sei als die in ihren Rollenmodellen noch immer festgefahrenen beiden großen Kirchen, erläutert Heil weiter, habe sie selbst auch in der Politik durchaus "Angst vor einer Rolle rückwärts".
Wieder Männer an der CDU-Spitze
Die nackten Tatsachen jedenfalls sprechen für sich: Nach der gescheiterten Kanzlerinnen-Kandidatur von Merkels Wunsch-Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer und schließlich der Wahlniederlage Armin Laschets 2021 geben in der Union längst wieder alte und mittelalte weiße Männer um Merkels einstigen Rivalen Friedrich Merz den Ton an; eine Spitzenpolitikerin, die sich für einen höheren Parteiposten anböte, scheint in der Union unterdessen nicht in Sicht.
"Der Mut, in einer so schwierigen Situation wie der jetzigen vielfältiger und diverser zu werden, ist wohl eher gering", bedauert CDU-Frau Heil. Sie sei aber sicher, dass das wiederkomme. "Die Ermutigung, die von Merkels Kanzlerschaft ausging, bleibt", ist sich Anja Karliczek sicher. Aber auch sie glaubt, dass es im Moment besonders schwer für Frauen ist, in den einflussreichsten Ämter mitzubestimmen, in diesem Moment, in dem in Europa und Nahost wieder Krieg herrschen und Forderungen nach Waffenlieferungen längst wieder salonfähig geworden sind.
Nach bestem Wissen und Gewissen
Ob es Merkel wohl schmerzt, dass ausgerechnet ihr langjähriger Widersacher Merz nun die Partei mit dem C im Namen lenkt - und das in eine in nicht wenigen Punkten diametral entgegengesetzte Richtung? Nein, sagen beide Politikerinnen, sicher nicht. "Ich glaube, sie ist mit sich und ihrer Welt im Reinen", erklärt die ehemalige Bundesministerin Karliczek. "Sie wird sich sagen: 'Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, jetzt müssen andere das Ruder übernehmen'. Ich glaube, sie geht das wesentlich nüchterner an, als wir uns vielleicht vorstellen."
Sowohl Anja Karliczek als auch Mechthild Heil wünschen Angela Merkel jetzt das Beste zum runden Geburtstag. Gottes Segen natürlich, aber auch noch viele Jahre Zeit, um all das nachzuholen, auf das sie in den oft harten und entbehrungsreichen Jahren ihrer Politikerinnen-Karriere verzichten musste.