"Ich kämpfe für diese Stadt, diese Jugendlichen und die gesamte Gesellschaft." Dafür wurde eine Bildungsinitiative namens Ferhat Unvar gegründet. 80 bis 90 Workshops zu Themen der Demokratie hat diese nach Angaben von Serpil Temiz Unvar bundesweit bereits veranstaltet. Damit gebe ihr Sohn heute anderen Menschen Hoffnung.
Die Mutter hat sich auch international ein Netzwerk aufgebaut und berichtete von anderen Familien, die Kinder aufgrund von islamistischen Taten, Queerfeindlichkeit oder Rassismus verloren haben. Sie rief dazu auf, gemeinsam den Kampf gegen Hassverbrechen zu führen und appellierte im "Congress Park Hanau" an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die Gesellschaft stärker zusammenzubringen.
Gewalttat mit Vorgeschichte
Dieser rief zuvor dazu auf, Hass keinen Raum zu geben. "Es ist an uns, gegen Rassismus und Rechtsextremismus, gegen Islamismus und gegen jede - ich betone jede - andere Form der Menschenfeindlichkeit einzutreten", sagte Steinmeier am Mittwoch in Hanau bei der zentralen Gedenkfeier für die Opfer der Tat.
Steinmeier verwies auf die Vorgeschichte der Tat, zu der Ressentiments gegen Musliminnen und Muslime, Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma gehört hätten. Zur Vorgeschichte gehöre auch der vor allem im Internet und in den Sozialen Medien verbreitete Hass, der darauf abziele, das gesellschaftliche Klima zu vergiften und Menschen mit Einwanderungsgeschichte auszugrenzen.
Einsatz für Gesellschaft als Geschenk
"Gemeinsam müssen wir mehr tun - gerade jetzt -, um das Miteinander in unserer vielfältigen Gesellschaft zu stärken“, sagte der Bundespräsident. Er würdigte in diesem Zusammenhang das zivilgesellschaftliche Engagement der Angehörigen als beispielhaft.
"Das ist nach allem, was sie erlitten haben, ein großes Geschenk für unser Land“, sagte Steinmeier.
Die Veranstaltung stand unter dem Motto "Gemeinsam gedenken für Zusammenhalt und Zukunft“. Am 19. Februar 2020 erschoss der 43-jährige Tobias R. binnen weniger Minuten Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic, Vili-Viorel Paun, Fatih Saracoglu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov aus rassistischen Motiven.
Zusammenhalt als Botschaft von Hanau
Anschließend tötete er seine Mutter und sich selbst. An der Gedenkstunde nahmen auch Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU), Bundesinnenministerin Nancy Faser und Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (beide SPD) teil.
Die große Mehrheit der Menschen in Deutschland will laut Steinmeier in Freiheit und Vielfalt leben. Diese Mehrheit muss aus Sicht des Bundespräsidenten jedoch hör- und sichtbarer werden. „Geben wir der Menschenfeindlichkeit keine Stimme“, erklärte er und versicherte:
"Wir stehen zusammen. Wir halten zusammen. Wir wollen zusammenleben. Das ist und das bleibt die Botschaft von Hanau."
Anschuldigungen gegen Behörden
Emis Gürbüz, Mutter des getöteten Sedat Gürbüz, konnten diese Worte nichts von ihrer Wut nehmen. Sie erhob schwere Anschuldigungen. "Über mein Kind entscheide nur ich - niemand sonst“, sagte sie und lehnte es ab, dass der Name ihres Sohnes auf dem geplanten Mahnmal in Hanau zu lesen sein wird. Sie ist wütend über den Standort des Gedenkortes.
Das Mahnmal namens "Einschnitt“ soll auf dem Kanaltorplatz in der Innenstadt zwischen den Tatorten entstehen. Dort soll künftig die Stelle des Mahnmals "Platz des 19. Februar“ heißen.
"Ich werde weiterhin für die Gerechtigkeit, Aufklärung und Bestrafung der Verantwortlichen kämpfen“, erklärte Gürbüz. Entschuldigungen seitens der Behörden lehnte sie mehrfach ab. Sie hinterfragte in ihrer Rede vielmehr den Umgang mit Spendengeldern und kritisierte das Verhalten der Stadt Hanau, warf ihr eine Mitverantwortung am Tod ihres Sohns vor. "Hätte jeder seine Pflicht erfüllt, wären diese neun Kinder heute noch am Leben.“
Warnung vor neuen Taten
Frustriert über den Stand der Aufklärung äußerte sich auch Said Etris Hashemi, dessen Bruder Said Nesar Hashemi bei dem Anschlag starb. Er fragte zudem, wer die Angst muslimischer Bürger vor solchen Taten sehe. "Die Sprache, die heute gewählt wird, kann morgen zur Tat werden."
Oberbürgermeister Kaminsky verwies auf die Trauer, die bleiben werde.
Diese müsse zur Quelle einer Kraft werden, um engagiert für Toleranz, Respekt und ein Miteinander einzutreten. "Das Lernen aus dem Unfassbaren ist der Auftrag, der an uns gerichtet ist“, sagte er und rief den Hanauern mit Migrationsgeschichte zu: "Sie gehören in diese Stadt - sie sind Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt.“