Zentrale Plätze verwandeln sich in Blumen- und Lichtermeere. Kollegen, Gemeindemitglieder und Menschen, die sich gar nicht kennen, kommen zu Gebeten oder Schweigeminuten zusammen. In sozialen Netzwerken verbreiten sich rasend schnell Botschaften und Appelle. Nach Tragödien wie den Anschlägen in Paris mit mehr als 130 Toten ähnelt sich in unseren Breiten die Gedenkkultur.
Viele Menschen fühlen sich ohnmächtig und hilflos. Was also tun? "Wir greifen auf Symbole zurück, um nicht handlungsunfähig zu sein", sagt der Freiburger Religionssoziologe Michael Ebertz. Zum Beispiel die brennenden Kerzen - "eine Symbolsprache, die niemanden ausschließt". Damit könnten Gläubige verschiedener Religionen und Konfessionen etwas anfangen, auch Menschen, die nicht religiös seien.
Virtuelle Gedenkkerzen
Oder: "Ich schreibe meinen Schmerz auf Twitter hinaus", sagt Ebertz, der an der Katholischen Hochschule Freiburg lehrt. Auch in dem sozialen Netzwerk greifen Nutzer auf Religiöses zurück: Nach den Anschlägen kursierte etwa das Schlagwort #prayforparis (Bete für Prais) - auf der anderen Seite aber auch #prayfornothing (Bete für nichts). Bambergers Erzbischof Ludwig Schick sprach via Twitter von "abscheulichen Attentaten" und betete für die ewige Ruhe der Toten.
Wie stark hat sich die Gedenkkultur gewandelt? "Massiv", meint Jürgen Bärsch, Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. So seien heutzutage etwa eine Fülle von Gedenkformen in den sozialen Medien denkbar: virtuelle Kerzen oder Videoblogs, um den Toten zu gedenken.
Trauer Ausdruck verleihen
Formen großer, öffentlicher Trauer erinnerten stark an die Reaktionen auf den Tod von Prinzessin Diana und Papst Johannes Paul II. Sie seien seinerzeit "starke Initialzündungen" gewesen. "Solche Inszenierungen haben ein Stück Vorbildcharakter dafür, wie ich selber mit Trauer umgehe", sagt Bärsch. "Man versucht, der Trauer einen zeichenhaften Ausdruck zu verleihen." Etwa mit Kerzen und Lichtern.
Auch ein Gebet brauche seinen Ausdruck, betont Bärsch. Es sei ein "Stück überlieferter Praxis, um mit den eigenen Sorgen, Nöten und mit der Ohnmacht fertig zu werden". Auch nach den Anschlägen von Paris, zu denen sich die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) bekannt hat, benötigten viele Menschen einen Adressaten, um das, was sie bewegt, "abzuladen" - das könne auch Gott sein. "Ich spüre, dass ich das nicht alles selber in der Hand habe."
Stille statt Lärm
In Paris eroberten sich die Trauernden den öffentlichen Raum zurück, sagt der Bochumer Pastoraltheologe Matthias Sellmann. Die Gehsteige vor den Restaurants, die Boulevards, auf denen die Attentäter am Freitag zuschlugen. Die Reaktionen seien friedlich: "Man schweigt, statt zu brüllen." Blumen anstelle von etwas Welkem. "Man beantwortet die Bedrohung nicht mit einer Gegenbedrohung."
Tobias Pehle, Sprecher der "Initiative Friedhofskultur", die sich für die Aufnahme der deutschen Friedhofskultur auf die Unesco- Welterbeliste einsetzt, sagt: "Die Anteilnahme zeigt deutlich, dass das Gedenken in unserer Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert hat." Die Menschen verspürten offenbar ein tiefes Bedürfnis, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen.
"Was man normalerweise etwa beim Tod eines Angehörigen individuell erlebt, hat auch eine gesamtgesellschaftliche Dimension, und die zeigt sich in den sozialen Netzwerken oder beim Anstrahlen von Monumenten." Pehle betont: "Dies ist Ausdruck unserer Kultur: So verachtend die Angriffe sind, so kulturvoll ist unser Gedenken."
Leticia Witte