Im Interview äußert er sich über Frust in der Friedensarbeit, den Schatten von Gründer Andrea Riccardi und wann in Santa Maria in Trastevere eine Frau predigt.
KNA: Im August gab es Berichte, Sie würden bei den Kommunalwahlen in Rom kommendes Jahr gegen Bürgermeisterin Virginia Raggi antreten. Was ist dran?
Marco Impagliazzo (Präsident der internationalen katholischen Gemeinschaft Sant'Egidio): Gerüchte im Sommerloch, völlig unbegründet. Allein von der Satzung unserer Gemeinschaft her kann ich als Präsident kein politisches Amt annehmen. Diese Nicht-Nachricht hat wohl jemand erfunden, der hofft, Sant'Egidio werde sich in die Lokalpolitik einmischen.
KNA: Sant'Egidio engagiert sich aber international, zuletzt mit 150 Freiwilligen im Sommer auf Lesbos. Was war Ihre erste Reaktion, als Sie vom Brand auf Moria gehört haben?
Impagliazzo: Scham. Weil Europa es noch immer nicht geschafft hat, diese Lager zu leeren und den Menschen eine Perspektive zu geben. Und dann Wut. Wir müssen den europäischen Kernwerten Solidarität und Zusammenarbeit mehr Gehör verschaffen.
KNA: Sant'Egidio war mit dem Papst auf Lesbos, in Zentralafrika, in Mosambik. Überall wird die Lage nicht besser, teils sogar schlimmer. Wie sehr frustriert Sie das?
Impagliazzo: Es braucht viel Geduld und Gebet, alltägliche Friedensarbeit und Diplomatie. Es gab viele Fortschritte. Die Familien, die wir von Lesbos nach Italien geholt haben, sind gut integriert. Dennoch bleibt es ein Rudern gegen den Strom.
KNA: Dabei hilft Beten tatsächlich?
Impagliazzo: Es hilft viel, erreicht Gegenden, die wir physisch nicht erreichen können. Viele Menschen spüren dieses Gebet und sagen, dass es ihnen hilft.
KNA: Die EU-Kommission stellt dieser Tage Pläne vor, das Dublin-Abkommen zur Aufnahme von Flüchtlingen durch ein anderes zu ersetzen. Wie realistisch ist das?
Impagliazzo: Es wäre ein wichtiger Fortschritt, auf den wir schon lange warten. Aber ich bezweifle, dass sich dies schnell umsetzen lässt, weil es vor allem in den Visegrad-Staaten Widerstand gibt. Aber diese Woche kommt Polens Staatspräsident Duda zu uns. Wir hoffen, in Polen einen Durchbruch zu erzielen, weil auch die Kirche dort Türen öffnen möchte.
KNA: Ihre Gemeinschaft und andere haben mit einigen Regierungen "humanitäre Korridore" ausgehandelt. Lassen sich diese ausdehnen?
Impagliazzo: Ja, denn dieses Modell hat sich bewährt. Wir haben es den Vereinten Nationen vorgeschlagen und hoffen, so einen legalen Weg eröffnet zu haben. Besser als Einzelabkommen in den Ländern wäre natürlich ein europaweiter humanitärer Korridor.
KNA: In Como wurde vergangene Woche ein Priester von einem obdachlosen Migranten erstochen. Werden auch Mitglieder Ihrer Gemeinschaft angegriffen - von Obdachlosen, Migranten, Rechtsradikalen?
Impagliazzo: Von Obdachlosen und Migranten nicht - abgesehen von gelegentlichem Streit unter Alkohol oder Drogen. Aber von Rechtsradikalen auf deren Webseiten, auch von "nationalistischen Katholiken", die uns attackieren ...
KNA: Auch körperlich?
Impagliazzo: Nein, bisher nicht. Mit tut es sehr leid um Don Roberto Malgesini, wir kannten ihn. Ich sehe ihn als einen der neuen Märtyrer der Nächstenliebe, von denen Johannes Paul II. sprach.
KNA: Soll er auch eine Gedenkstelle in der Kirche San Bartolomeo auf der Tiberinsel erhalten, wo der Märtyrer des 20. und 21. Jahrhunderts gedacht wird?
Impagliazzo: Ja, ich meine schon.
KNA: Der Papst wie Ihre Gemeinschaft äußern sich oft dezidiert gegen Menschenrechtsverletzungen, nicht aber mit Blick auf China und etwa die Verfolgung der Uiguren dort. Warum nicht?
Impagliazzo: Zum Papst kann ich keine Bewertung abgeben. Der Heilige Stuhl hat seine eigene Bewertungen. Zu Sant'Egidio kann ich sagen: Wir verfolgen sehr wohl das Thema Religionsfreiheit, bei dem wir stark engagiert sind. Aber wir sind nicht so verbreitet, dass wir uns überall engagieren können. Wer sich äußert, muss die jeweilige Situation gut kennen. Bloß etwas zu sagen, ist einfach. Aber was sind die Konsequenzen davon - vor allem für die Menschen dort?
KNA: Sant'Egidio hat einflussreiche Kontakte in Kirche und Gesellschaft. Wie viel Nähe zur Macht können Sie sich leisten, um als Anwalt der Armen noch glaubwürdig zu sein?
Impagliazzo: Nähe heißt nicht Zusammenwohnen. Menschen mit Macht sind für uns Gesprächspartner verschiedener Institutionen, mit denen führen wir in großer Freiheit und Offenheit einen Dialog. Wer den Armen helfen will, muss mit denen reden, die das Kommando haben. Wir beten auch für die Mächtigen, dass sie sich bekehren.
KNA: Sant'Egidio wurde 1968 in Rom von Andrea Riccardi gegründet. Fühlen Sie als sein Nachfolger sich nicht in seinem Schatten stehend? Wie kann auf die Dauer die Gemeinschaft ihren Weg finden von der charismatischen Gründergestalt hin zu einer Institution?
Impagliazzo: Wir sind zwei verschiedene Persönlichkeiten. Andrea Riccardi ist zwölf Jahre älter; ich wurde quasi in eine andere Welt geboren. Insofern bin ich nicht sein Schatten. Jetzt bin ich der Präsident - mit allen Rechten und Pflichten. Sant'Egidio genießt auch deswegen Sympathie, weil wir eine der wenigen katholischen Institutionen sind, in denen der Gründer Platz gemacht hat für andere. Das Problem ist: Wie bleibt man eine charismatische Institution? Das ist Alltagsaufgabe, bei der uns das Abendgebet an unsere Wurzeln erinnert, hinauszugehen zu den Armen. Die Freundschaft mit ihnen inspiriert immer.
KNA: Andere charismatische Aufbrüche erlebten Skandale. Vor welcher negativen Schlagzeile über Sant'Egidio fürchten Sie sich am meisten?
Impagliazzo: Wenn es heißen würde, wir stünden nicht mehr auf der Seite der Armen. Wenn wir nur noch eine Institution um ihrer selbst wären und den prophetischen Schwung verloren hätten.
KNA: "Sant'Egdio - die Reichen von Trastevere"?
Impagliazzo: Ja, so etwa; das würde mir sehr missfallen.
KNA: Wichtig ist für Sie das tägliche Abendgebet, besonders in Santa Maria di Trastevere. Was mich wundert: Ich habe hier noch nie eine Frau predigen gehört. Ist Sant'Egidio so patriarchal?
Impagliazzo: Es stimmt, dass Sie hier in Trastevere noch keine Frau haben predigen sehen. Das hat keinen ideologischen Grund, eher etwas komplizierte traditionelle. Dies ist etwas, das wir ändern wollen. Aber in unseren anderen Gemeinschaften predigen überall auch Frauen.
KNA: Und wann predigt auch in Trastevere eine Frau?
Impagliazzo: Nächsten Monat, im Oktober.
Das Interview führte Roland Juchem.