Gemeindereferentin sieht "Flüchtlinge zweiter Klasse"

"Wir müssen über Rassismus reden"

Gehen wir mit Menschen aus der Ukraine anders um, als mit denen, die aus Syrien oder Afghanistan kommen? Am elften Jahrestag des Syrien-Krieges spricht die Flüchtlingshelferin Marianne Arndt deutliche Worte.

Flüchtlingslager an syrisch-libanesischer Grenze / © Hussein Kassir (shutterstock)
Flüchtlingslager an syrisch-libanesischer Grenze / © Hussein Kassir ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Gibt es Ihrer Meinung nach Flüchtlinge zweiter Klasse? 

Marianne Arndt / © Viola Kick (DR)
Marianne Arndt / © Viola Kick ( DR )

Marianne Arndt (Gemeindereferentin in Köln-Mülheim): Ja, leider gibt es sie. Wir haben das im Laufe der Jahre immer wieder erfahren: Als im vergangenen Spätsommer die afghanischen Ortskräfte da waren, wurden Türen und Wege geöffnet. Aber noch lange nicht so, wie es jetzt mit den ukrainischen Flüchtlingen ist. Das trifft unsere Flüchtlinge, die seit langen Jahren hier sind, äußerst bitter. Ich habe große Sorge vor einer erneuten tiefgreifenden Spaltung unserer Gesellschaft.

Marianne Arndt (Gemeindereferentin in Köln-Mülheim)

"Ich habe große Sorge vor einer erneuten tiefgreifenden Spaltung unserer Gesellschaft."

DOMRADIO.DE: Wie erleben Sie denn den Umgang mit den Geflüchteten aktuell, aber eben auch im Vergleich zu anderen Situationen in der Vergangenheit, in denen viele Menschen zum Beispiel aus Syrien oder Afghanistan zu uns gekommen sind?

Arndt: Die Menschen aus Afghanistan hatten bis vor kurzem überhaupt keine Möglichkeit, an Sprachkursen teilzunehmen. Ihnen wurden ganz viele Steine in den Weg gelegt, um Integration zu betreiben. Sie hatten Mühe, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, obgleich sie arbeiten wollen. Bis zum heutigen Tag ist es ihnen oft verwehrt, ihre Familie nachzuholen. Das ist aktuell gar nicht möglich.

DOMRADIO.DE: Woran liegt das, dass wir anders mit der Situation umgehen? Ist es das wirklich, die räumliche Nähe?

Arndt: Ich glaube schon, dass es emotional eine räumliche Nähe ist. Und ich glaube, wir müssen uns noch mal maßgeblich auch als Bundesrepublik Deutschland mit dem Thema Rassismus auseinandersetzen. In den Flüchtlingseinrichtungen sind natürlich nicht nur die weißen, blauäugigen Geflüchteten. In der Ukraine leben auch viele Menschen mit anderen Pässen. Auch viele Romnis leben in der Ukraine. Auch sie suchen den Weg hier nach Deutschland, wenn sie es schaffen. Und auch daran wird sich wieder unsere Gesellschaft spalten.

DOMRADIO.DE: Was erwarten Sie jetzt in der Situation als deutliches Zeichen von der Politik?

Arndt: Von der Politik kann ich eigentlich nur erwarten, dass sie Flüchtlinge im schnellem Maße gleichzieht. Wir können nicht den ukrainischen Leuten die KVB-Tickets (Kölner Verkehrs-Betriebe, Anm. d. Red.) ermöglichen und allen anderen nicht. Wir können nicht SIM-Karten verschenken und alle anderen stehen im Regen. Wir können nicht alle Wege zu Krankenkassen öffnen und andere kriegen keine Möglichkeit, ihre dringenden Operationen durchführen zu können. Ich betreue gerade eine albanische Frau, die schwerst krank ist. Sie bekommt keinen Zugang zum Krankenkassen-System. Der wird systematisch verweigert. Das kann nicht sein in unserer Gesellschaft.

Marianne Arndt (Gemeindereferentin=

"Wir können nicht den ukrainischen Leuten die KVB-Tickets ermöglichen und allen anderen nicht. Wir können nicht SIM-Karten verschenken und alle anderen stehen im Regen."

DOMRADIO.DE: Das ist der Blick auf die Politik. Gerade erleben wir aber auch in der Gesellschaft eine extreme Hilfsbereitschaft. Menschen spenden, demonstrieren, bieten Wohnraum an. Glauben Sie, dass das anhält oder, dass das in ein paar Wochen wieder vorbei ist?

Arndt: Meine Vermutung ist, dass es ein paar Wochen wieder vorbei ist und das wäre tragisch. Ich würde gerne mit Politik, Gesellschaft, Kirche und Religion darüber reden, dass alle Menschen gleiche Rechte und gleiche Werte haben. Ich habe eine Familie, die aus dem Balkan kommt, die seit neun Jahren hier lebt, dringend eine Wohnung sucht. Einer der Familienmitglieder war sogar mal Ehrenamtspreisträger der Stadt Köln. Er wird überall abgewiesen. Parallel dazu habe ich in den letzten drei Tagen fünf Wohnungsangebote bekommen, aber nur für ukrainische Flüchtlinge. So etwas tut mir in der Seele weh. Wir als "Mosaik Köln-Mülheim" haben uns entschieden, einen neuen Verteiler aufzumachen, weil viele Geflüchtete aus anderen Ländern in unserem Verteiler sind. Und wir wollen sie nicht weiter mit dieser schmerzhaften Situation belasten.

Das Interview führte Michelle Olion.

Experte: Bis zu zehn Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine

Migrationsforscher Gerald Knaus hält es für möglich, dass insgesamt zehn Millionen Menschen aus der Ukraine flüchten werden. "Putins Kriegsführung in Tschetschenien hat dazu geführt, dass ein Viertel der Tschetschenen vertrieben worden sind. Darauf müssen wir uns einstellen", sagte Knaus dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Ein Viertel der Ukrainer entspräche zehn Millionen Menschen. Das ist bei der aktuellen Dynamik durchaus möglich, sollte der Krieg so weitergehen."

Flüchtlinge sitzen auf einem Fahrzeug an der rumänisch-ukrainischen Grenze / © Alexandru Dobre/AP (dpa)
Flüchtlinge sitzen auf einem Fahrzeug an der rumänisch-ukrainischen Grenze / © Alexandru Dobre/AP ( dpa )
Quelle:
DR
Mehr zum Thema