KNA: Zum sechsten Mal haben das "Bündnis Entwicklung Hilft" - zu dem auch die beiden kirchlichen Hilfswerke Misereor und "Brot für die Welt" gehören - und die Universität der Vereinten Nationen den Weltrisikobericht präsentiert. Darin geht es um die Frage, welche Länder in besonderer Weise den Folgen von Umwelteinflüssen und Naturgefahren ausgesetzt sind. Schwerpunkt sind in diesem Jahr Logistik und Infrastruktur. In Deutschland wird in diesen Tagen über den Appell der Bundesregierung diskutiert, sich für Katastrophenfälle durch einen Vorrat an Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs zu wappnen - ein klassisches Sommerloch-Thema?
Matthias Garschagen (Leiter der Weltrisikostudie und Geograph an der UN-Universität in Bonn): Was viele hoch entwickelte Gesellschaften teilweise verlernen - und dazu gehört auch Deutschland - ist die Fähigkeit zur Selbsthilfe im Katastrophenfall. Das heißt konkret: Wissen wir etwa mit einem dreitägigen Stromausfall umzugehen?
KNA: Wozu ist das wichtig?
Garschagen: Wenn der Strom ausfällt, dann geben zum Beispiel sehr schnell auch die Pumpwerke für Frischwasser ihren Geist auf. Trinkwassermangel kann eine Folge sein. Also: Haben sie tatsächlich noch Kerzen, Lebensmittel und genügend Frischwasser zuhause, um solche Engpässe für ein paar Tage zu überstehen? Zugegebenermaßen ist es weniger die Angst vor Naturereignissen, die aktuell zu einem Umdenken führt, als vielmehr die Sorge vor terroristischen Anschlägen.
KNA: Immerhin steht Deutschland mit Blick auf die Bewältigung von Erdbeben, Unwettern oder Flutkatastrophen ausweislich des Weltrisikoberichts und des dazugehörigen Indexes recht gut da. Wo sehen Sie trotzdem Nachbesserungsbedarf?
Garschagen: Wir waren in der Vergangenheit sehr stark darin, uns mit Fragen zu beschäftigen wie: Hält die Eisenbahnlinie entlang des Rheins einem Hochwasser stand, das statistisch gesehen einmal in 100 Jahren vorkommt? Was jetzt mit dem Klimawandel passiert ist, dass sich extreme Wetterlagen verschieben, sowohl zeitlich als auch räumlich. Das heißt: Plötzlich sind Infrastrukturen betroffen, die vorher gar nicht tangiert wurden. Oder extreme Wetterlagen häufen sich - und es kommen neue Gefahren hinzu. Wir müssen umlernen.
KNA: Als besonders gefährdet gelten beim Weltrisikobericht fast schon klassischerweise Entwicklungs- und Schwellenländer. Diesmal liegt der Schwerpunkt der Studie auf den Themen Infrastruktur und Transport - warum?
Garschagen: Infrastruktur ist einer der wichtigsten Faktoren im Risikomanagement überhaupt. Sie brauchen eine gute Infrastruktur, um Krisen oder Katastrophen zu bewältigen. Ein gutes Straßennetz, gute Brücken, gute Flughäfen, um Soforthilfe leisten und auch abgeschiedene Ecken des betroffenen Landes erreichen zu können.
KNA: Wenn aber beispielsweise ein Erdbeben Verkehrswege vernichtet hat?
Garschagen: Dann müssen Kapazitäten da sein, um die Verluste zu kompensieren. Ausweichrouten, die noch befahrbar sind, Helikopter, die Hilfsflüge übernehmen, und Eisenbahnlinien, die so konstruiert sind, dass ihnen etwa Erdrutsche, die es nach Beben häufiger mal gibt, wenig anhaben können. Da haben gerade Entwicklungs- und Schwellenländer große Defizite. Und dann wird ein Naturereignis erst zu einer echten Katastrophe.
KNA: Es mehren sich Fälle, in denen solche Naturereignisse nicht nur einzelne Verkehrsadern lahmlegen, sondern die wirtschaftlichen Herzkammern treffen - von Hafenanlagen bis hin zu Kraftwerken.
Garschagen: Das haben wir vor einigen Jahren bei Überschwemmungen in Thailand beobachtet. Das Ereignis an sich war überschaubar. Weil aber auch der Flughafen in Bangkok betroffen war...
KNA: ...eine wichtige Drehscheibe für den Verkehr in Südostasien...
Garschagen: ...wurden durch die Überflutungen sogar die globalen Handels- und Verkehrsströme in Mitleidenschaft gezogen.
KNA: Ist das aber nicht letzten Endes auch ein Indiz dafür, dass wir in der Ära von Internet und Computer mitnichten mehr Kontrolle über die Naturgewalten haben?
Garschagen: Was wir ganz klar sehen, ist, dass die Abhängigkeiten in einer technisierten Welt und damit auch die Kaskadeneffekte im Katastrophenfall zunehmen. 2012 führte der Hurrikan Sandy zu einem Blackout des Stromnetzes in Teilen von New York. Dadurch wiederum war die Kommunikation via Internet nicht mehr möglich. Im schlimmsten Fall führt das dazu, dass Sie kurzfristig überhaupt keine Hilfslieferungen mehr auf die Beine stellen können.
KNA: Italien rangiert im Weltriskoindex auf Platz 119 und ist damit als vergleichsweise "katastrophenfest" eingestuft. Gilt das auch angesichts des jüngsten Bebens in Umbrien?
Garschagen: Der Weltrisikoindex rechnet nicht einzelne, kurzfristige Ereignisse ein. Die zugrundeliegenden Daten berücksichtigen langfristige Durchschnittswerte und Referenzszenarien. Das generelle Muster, welches auch im jüngsten Beben deutlich wird, spiegelt sich aber auch in den Indexwerten wider.
KNA: Nämlich?
Garschagen: Italien hat eine vergleichsweise hohe Gefährdung und nimmt hier im globalen Vergleich den 69. Rang ein. Gleichzeitig hat Italien aber eine verhältnismäßig niedrige gesellschaftliche Verwundbarkeit mit Rang 144, was besonders durch eine hohe Erfahrung und Kapazität im Umgang mit extremen Naturereignissen bedingt ist. Für eine abschließende Einschätzung des aktuellen Bebens und seiner Folgen ist es allerdings noch zu früh.
Das Interview führte Joachim Heinz