DOMRADIO.DE: Sie schreiben in Ihrem neuen Buch "Gottesreich und Menschenmacht", dass Jesus das Reich Gottes verkündet, er aber keinen Gottesstaat will. Diese Differenzierung zwischen Politik und Religion bedeutet einen riesigen Innovationsschub in der politischen und religiösen Welt, so sagen Sie. Aber wie zeigt sich der; es gibt ja dennoch seit Jesus Christus verheerende Politik und auch schlimme Exzesse durch die Religion?
Prof. Dr. Thomas Söding (Seniorprofessor für Neutestamentliche Exegese an der Ruhr-Universität Bochum und Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken): Ja, da haben Sie absolut recht. Wir sehen ja gerade in unserer Gegenwart, dass durch das Aufflammen fundamentalistisch kodierter Religion auch verheerende politische Wirkungen entstehen. Von daher kann man manche verstehen, die sagen, die Religionen sollen sich aus der Politik vollkommen heraushalten.
Aber wenn sie das tatsächlich täten, würden sie nicht nur ihrem eigenen Ethos widersprechen, sondern es würden auch die ganzen Ressourcen der Solidarität, die durch die Religion geprägt sind, fehlen. Jesus sagt vor allem: 'Gebt Gott, was Gottes ist.' Jetzt könnten viele denken: 'Ich engagiere mich in der Welt gar nicht mehr‘. Das wäre grundfalsch! Vielmehr ist es so, wie Jesus es verkündet hat, Gottes Wille soll geschehen 'wie im Himmel, so auf Erden‘. Und dabei ist die Politik gefragt. Die Politik kann nicht das Heil der Menschen bringen, aber sie kann Gerechtigkeit fördern - und sich darauf zu konzentrieren, das ist ein ganz starker Impuls Jesu!
DOMRADIO.DE: Für die einen hat Jesus etwas von einem pazifistischen Hippie, für die anderen hält sich der Gottessohn ganz aus der Politik raus. Lässt sich aus dem Neuen Testament dann so nicht jede politische Meinung irgendwie begründen?
Söding: Leider zeigt die Geschichte der Auslegung, dass das Neue Testament auch eine riesige Projektionsfläche gewesen ist, aber auch wie ein riesiger Magnet gewirkt hat. Und meine Aufgabe als Neutestamentler ist zunächst einmal, durch eine klare historisch-kritische Exegese Unterscheidungen zwischen unseren heutigen Erwartungshorizonten und den damaligen Konstellationen vorzunehmen, die unglaublich brisant waren.
Auf der anderen Seite möchte ich aber nicht, dass das Neue Testament in einem Museum landet und nur noch als historische Urkunde Interesse findet, sondern ich will die Geltungsfragen stellen – und sie stellen sich markant. Denn sobald man sich auf der weltweiten Bühne bewegt, ist völlig klar, dass die Religionen gefordert sind. Und in Deutschland ist es zwar gegenwärtig so, dass die Kirchen massiv schwächeln, aber das bedeutet nicht, dass ihre Beiträge zum politischen Diskurs unwichtiger wären. Sie sind nur - Gott sei Dank - nicht selbstverständlich, und deswegen muss theologisch argumentiert werden.
DOMRADIO.DE: Das Neue Testament ist vor ungefähr 2000 Jahren entstanden, natürlich in einem völlig anderen Umfeld. Sie schauen in Ihrem Buch auch auf die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. Also was spielt denn da historisch in das Neue Testament hinein? So etwas wie Demokratie zum Beispiel gab es ja dort nicht.
Söding: Die gab es tatsächlich nicht in der Weise, wie wir heute von Demokratie sprechen. Das Neue Testament entsteht in einem sehr bewegten Umfeld; die Macht liegt beim römischen Imperium.
Das römische Imperium häutet sich aber in der damaligen Zeit, es geht von einer oligarchischen Senatsorganisation über in das, was dann später Kaisertum genannt wird. Das hat massive interne Krisen zur Folge, das hat eine massive Benachteiligung der armen Bevölkerung zur Konsequenz gehabt. Aber gleichzeitig expandiert das Imperium.
Durch die Verkündigung Jesu im Licht des Ostergeschehens öffnet sich der Raum, dass nicht nur in einem Land unter einem Gott mit einem Gesetz, sondern auf der ganzen Erde, mit vielen verschiedenen Herrschern, mit ganz verschiedenen Rechtstraditionen Menschen ihren Glauben leben sollen; privat, aber auch öffentlich. Und das ist ein enormer Innovationsschub.
Dazu brauchte es neue Antworten. Die sind im Alten Testament begründet, aber mit Zitaten aus dem Alten Testament alleine kann man diese neue Konstellation nicht bewältigen. Deswegen sind neutestamentliche Grundorientierungen wie: 'Gebt Gott, was Gottes, und dem Kaiser, was des Kaisers ist' einerseits wegweisend, hilfreich und Hoffnung stiftend, auf der anderen Seite immer umstritten. Und in diesen Streit müssen wir uns auch heute einmischen.
DOMRADIO.DE: Sie sprechen es an; die Demokratie ist weltweit unter Druck - durch rechtsextreme Kräfte, aber auch durch islamistischen Terror oder auch durch autokratische Herrscher. Sie sind als Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken auch mit der konkreten Politik in Berührung. Wie kann denn eine durch das Christentum inspirierte politische Ethik die Demokratie tatsächlich und konkret stabilisieren?
Söding: Zum einen hätte ich das Buch, so wie ich es geschrieben habe, nicht geschrieben, wenn ich nicht durch meine Tätigkeit auch für das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, das ja in erster Linie einen politischen Auftrag hat, unbedingt den Eindruck gewonnen hätte, dass die Kirche gegenüber der Politik eine Bringschuld hat und dass auch von der politischen Seite erwartet wird, dass sie diese Bringschuld abträgt. Dann muss man argumentieren und Hintergründe beleuchten können.
Aber ich sehe zum anderen eine große Gefahr: dass eine religiöse Prägung zu einseitigen Politikoptionen führt. Ich sehe die katholische Kirche in der starken Versuchung, sich auf bestimmte Prinzipien zurückzuziehen. Ich denke jedoch, dass es in der Konsequenz dieses 'Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist' liegt, auch die eigene Logik des politischen Systems anzuerkennen und sich so einzumischen.
Im Neuen Testament war das noch nicht möglich. Da waren die Christen eine kleine verfolgte Minderheit. Die mussten Widerstand leisten. Das haben sie getan und durch diesen Widerstand die politische Landschaft verändert. Das verschiebt sich sofort, wenn dann das Christentum zur Mehrheit wird.
Dann sieht man, dass die Kirche aber auch praktisch jeder Versuchung, mithilfe von Gott Macht über andere Menschen aufzubauen, erlegen ist. Jetzt sind wir aber in einer Situation, in der diese teilweise fatalen Selbstverständlichkeiten beendet sind; wir sind in einem durch Freiheit geprägten Diskurs, in dem es um die Gerechtigkeit geht und die Stimme der Kirche gefragt ist.
DOMRADIO.DE: Es gibt diesen polemischen Satz: 'Mit der Bibel in der Hand kann man keine Politik machen.' Was sagen Sie da als Neutestamentler dazu?
Söding: Dieses Wort wird ja Bismarck zugeschrieben. Ich glaube, er hat noch schlauere Sätze als diesen hier formuliert (lacht). Also: ohne die Bergpredigt Politik zu machen, ist offensichtlich gar kein gutes Unterfangen.
Aber das eine ist ja klar: wir brauchen die Fähigkeit des geschichtlichen Denkens, die Fähigkeit der Differenzierung, auch die Fähigkeit, Texte aus der Antike nicht zu verdammen, weil sie zum Beispiel patriarchalisch geprägt sind.
Ja, das sind sie, aber innerhalb dieser vorgegebenen zeitbedingten Strukturen gibt es doch aus dem Christentum heraus, das ja auch mit den jüdischen Reformbewegungen der damaligen Zeit eng verschwistert gewesen ist, einen starken Freiheitsimpuls, einen starken Gerechtigkeitsimpuls und insbesondere auf der einen Seite die Zumutung an die Politik 'Du bist nicht alles, du bist nur für die weltliche Dinge zuständig' und auf der anderen Seite den Impuls an das, was man dann später Kirche nennt: 'Sei nicht unpolitisch, sondern konzentrier dich auf die Verkündigung des Evangeliums. Aber das Evangelium ist politisch, also mischt dich ein, wo die Option für die Armen, die Bewahrung der Schöpfung auf der Tagesordnung stehen'.
Das Interview führte Mathias Peter.