DOMRADIO.DE: Glocken sind doch eigentlich etwas Materielles, warum gehören die jetzt zum immateriellen Kulturerbe?

Prof. Dr. Michael G. Kaufmann (Evangelische Landeskirche in Baden, Mitglied im Beratungsausschuss für das Deutsche Glockenwesen): Diese Frage begegnet mir oft, weil es in der Tat so ist, dass man eine Glocke anfassen möchte, wenn man in ihre Nähe kommt. Aber es gibt einen deutlichen Unterschied zu den tatsächlichen Weltkulturerbestätten, wie zum Beispiel die großen Dome in Aachen oder Speyer oder die Würzburger Residenz, den Naturerbestätten, also Naturparks, die eingerichtet worden sind, oder dem Weltdokumentenerbe.
Die UNESCO hat sich vor etwa 20 Jahren gedacht, dass man die Techniken und die Traditionen, aber auch die Innovationen innerhalb verschiedener Bräuche, Handwerke und künstlerischer Aktivitäten unter Schutz stellen kann. Diesem Abkommen ist die Bundesrepublik beigetreten und trägt seit gut zehn Jahren immer wieder neue Kulturformen in eine Liste ein. Da war es möglich, auch die Glockenmusik und den Glockenguss zu integrieren. Mit allem, was über Jahrhunderte hinweg, über 50 Generationen, dahin geführt hat.
DOMRADIO.DE: Sie haben über den Beratungsausschuss für das Deutsche Glockenwesen maßgeblich dazu beigetragen, dass das so gekommen ist. War das ein steiniger oder leichter Weg, das Glockengeläut und die Glockenmusik auf die Liste zu setzen?
Kaufmann: Es war ein etwas steiniger Weg, weil Glocken nicht überall geliebt werden. Sie können auch als Ruhestörung empfunden werden. Außerdem werden sie assoziiert mit Kirchen, wobei wir viele säkulare Glocken haben. Auch da gibt es Ressentiments.
Deswegen war der Prozess etwas länger. Aber es war auch gut, dass wir von der Kommission in Baden-Württemberg, die den Antrag in einer ersten Runde vor ein paar Jahren begutachtet hat, noch einige Kritikpunkte mit auf den Weg bekommen haben, um nachzubessern. Ich glaube, jetzt ist der Antrag unschlagbar. Er umfasst nämlich alles, was die Glockenkultur angeht.
DOMRADIO.DE: Glocken und Glockengeläut werden in erster Linie religiös wahrgenommen. Die Kirchen verlieren aber immer mehr Mitglieder und Kirchengebäude werden geschlossen, sodass auch Glocken verstummen. Wie wollen sie Glockengeläut als Kulturerbe erhalten?
Kaufmann: Prinzipiell ist liturgisches Läuten über unsere Gesetzgebung geschützt. Zu Gottesdiensten, aber auch als Aufruf zum stillen Gebet, darf geläutet werden. Nicht geschützt ist das wilde Drauflos-Bimmeln. Nur weil jemand Lust und Laune hat, ein Geläut anzustellen oder sich eines im Garten zu bauen – das kann ganz schnell zur Ruhestörung oder Lärmbelästigung führen.
Trotzdem müssen wir gerade aus dem Grund, dass die Welt um uns herum immer säkularer wird, schauen, dass wir andere Zugänge eröffnen. Immaterielles Kulturerbe bedeutet eine Kulturform, die seit dem Mittelalter, seit der Karolingerzeit, lebendig ist in der Formung, im Guss und in den Aktivitäten drumherum.
Dazu gehören Glockenspiele, die von den Rathaus- oder Kirchtürmen herunterklingen oder das Geläut, das am Samstagabend schon den Sonntag feierlich begrüßt und darauf einstimmt, dass es ein besonderer Tag ist. Das kann ich mir nicht wegdenken aus unserer Gesellschaft. Da genießen wir jetzt über diesen zusätzlichen Status neben dem Rechtsschutz noch einen weiteren Hebel.

DOMRADIO.DE: Wie gehen Sie damit um, wenn Glockenmusik auf immer weniger Akzeptanz stößt?
Kaufmann: Erstaunlich ist, dass sich vor allem die Leute beschweren, die erst kürzlich in die Nähe der Kirche gezogen sind und sich dann wundern, dass dort Glocken läuten. Die eigentlichen Anwohner, die dort seit Generationen ansässig sind, sind mit dem Klang der Glocken aufgewachsen, sie sind damit vertraut. Aber die anderen werden zum Problem, indem sie bis hin zu Gerichtsprozessen versuchen, die Glocken zum Verstummen zu bringen oder eine Einschränkung auf ein Minimum zu erreichen.
Man kann aber vieles im Vorfeld im guten Gespräch lösen. Wir haben in der Badischen Landeskirche in den letzten 20 bis 30 Jahren keinen einzigen Fall eines Prozesses oder einer tatsächlich gerichtlichen Auseinandersetzung gehabt. Wir haben über Lautstärkemessungen festgestellt, ob das Interesse berechtigt ist. Ist dem so, kann man Dämmungsmaßnahmen vornehmen, zum Beispiel die Schallläden anders regulieren oder teilweise abdecken oder den Läutewinkel in der Glocke etwas entspannen.
Auch den Ballen am Klöppel kann man, wenn er aus reinem Stahl ist und auf die Bronzeglocke zu arg draufdrischt, mit einem Bronzepuffer versehen. Das alles führt zu einer Reduktion von einigen Dezibeln. Oft geht es nur um diese Minimalgrenze und um den guten Willen, der von beiden Seiten kommen muss. Dann lässt sich das Problem eigentlich gut lösen, das ist zumindest meine Erfahrung.
Das Interview führte Hilde Regeniter.