"Wir leben in einem ungerechten Land, in dem sich die soziale Spaltung weiter vertieft. Dazu kann eine Kirche nicht schweigen, wenn sie sich selbst ernst nimmt", schreibt der frühere Fraktionsvorsitzende der Linken, Gregor Gysi, im Bundestag in der "Zeit"-Beilage "Christ und Welt" am Donnerstag.
Gute Predigten müssen politisch sein
"Gottes Wort" verliere ohne Bezug zur Realität viel von seiner Kraft, fügte der als herausragender Redner bekannte Bundestagsabgeordnete hinzu. "Insofern gehen Vorwürfe, Predigten seien zu politisch gehalten, am Wesen dessen vorbei, was eine gute Predigt immer auch sein muss: das Christenwort zu den aktuellen Zeitläuften."
Gysi verwies auch auf das Engagement vieler Christen für Flüchtlinge und sozialen Zusammenhalt. Sehr viele Menschen in den Kirchen lebten und vermittelten Moral- und Wertvorstellungen wie die Achtung der Menschenwürde, Solidarität, Barmherzigkeit.
"Sie dürfen erwarten, dass ihr Engagement Widerhall und Unterstützung auch in den Predigten erfährt." Papst Franziskus äußere sich nicht selten hochpolitisch und halte den Mächtigen den Spiegel vor. "Das soll nicht angemessen sein? Es ist dringend erforderlich", so Gysi.
Kirche vermittelt Moral- und Wertvorstellungen
Der 70-Jährige verwies darauf, dass er selbst nicht gläubig sei. Er fürchte aber eine gottlose Gesellschaft, weil zurzeit nur die Kirchen grundlegende Moral- und Wertvorstellungen allgemein verbindlich prägen könnten.
Die Linke habe diesen Anspruch mit der Art und Weise, wie der real existierende Sozialismus organisiert wurde, für längere Zeit verwirkt, "obwohl sie rein inhaltlich dafür Angebote hätte".
Die Rechte ordne Wertvorstellungen tendenziell dem Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft unter. "Der Markt aber kann keine Moral- und Wertvorstellungen hervorbringen."
"Jesus wäre heute an der Seite der Linken"
Auf die Frage, ob Jesus heute bei der Linken wäre, sagte Gysi, ein solcher Mann würde sich schwerlich in das Korsett einer Organisation wie einer Partei einpassen. "Ich kann mir Jesus nicht so recht als Teilnehmer an einem innerparteilichen Machtkampf vorstellen."
Zugleich äußerte der Linken-Politiker aber die Vermutung, Jesus wäre heute "an der Seite der Linken, wenn sie ihre Aufgabe wahrnimmt, bei den Schwachen, und zwar allen Schwachen bis hin zur Mitte der Gesellschaften, zu sein".