Günther B. Ginzel über die eskalierende Gewalt in Israel

"Wir haben Hassprediger auf allen Seiten"

Über die angespannte Lage in Israel und das mögliche Handlungsspektrum der israelischen Politik spricht im domradio.de-Interview der jüdische Publizist Günther B. Ginzel.

Günther B. Ginzel (KNA)
Günther B. Ginzel / ( KNA )

domradio.de: Glauben Sie, dass die Entführung der Talmud-Schüler so eine Art Trotz-Reaktion gegen die Friedensinitiative des Papstes war?

Günther B. Ginzel: Es mag sein, dass das von langer Hand vorbereitet war. Aber mit absoluter Sicherheit ist das ein Personenkreis in Israel und Palästina, dem die Friedensgeste des Papstes, dem überhaupt seine Friedensbotschaft, seine Versöhnung von Juden, Christen, Muslimen im gemeinsamen Auftreten überhaupt nicht gefällt. Sie wollen den Konflikt und für sie ist jeder Frieden im Grunde eine Existenzbedrohung.

domradio.de: Anders gefragt ‑ heißt das, dass Friedensbemühungen bei den Extremisten beider Seiten fast automatisch neue Gewaltreaktionen auslösen?

Ginzel: Ja, so ist das seit Jahrzehnten. Ich habe das oft genug im Land erlebt – die israelischen Siedler können sich blind auf die palästinensischen Radikalen verlassen – immer wenn es nach Frieden aussieht, werden sie etwas unternehmen, wie z.B. jetzt die Entführung. Und die Palästinenser können sich blind auf die jüdischen Fanatiker verlassen, die ihrerseits zurückschlagen, und die Spirale wird immer brutaler und letztendlich bleiben Ethik und Werte auf der Strecke, dieses vielbeschworene Verhältnis zur Religion – die einen kämpfen für Allah, die anderen für Gott – in Wirklichkeit vergötzen sie das Land, vergötzen sie alle ihre Ideologien, die wahren Religionen dort sind bei den radikalen Kräften in Wirklichkeit nationalistische Ideologien. Und jede Schandtat wird dadurch gerechtfertigt.

domradio.de: Welche Rolle spielt die Religion überhaupt noch in diesem Konflikt? Ist sie nicht längst ein Deckmäntelchen geworden?

Ginzel: Nein, das wäre zu harmlos! Wir haben Hassprediger auf allen Seiten, wir haben selbstverständlich das Zulassen der Mehrheit, dass sich die Radikalen der Religionen frei bedienen können. Wir haben eine Grauzone zwischen Nationalismus, Vergötzung des Landes und religiösen Traditionen – das ist 1 zu 1 so im Islam wie im Judentum – das ist eine absolute Katastrophe. Von daher sind das natürlich auch immer Gottesstreiter, die eben über alle Grenzen hinweggehen können. Dabei verraten sie alles! Wenn ich das als Jude sagen darf: Das was sich auf der israelischen rechten Seite abspielt, ist aus meiner Sicht ein Verrat an allem, was dem Judentum hoch und heilig ist. Sie verraten letztendlich die Grundlage des jüdischen Staates, indem sie zu faschistoiden Mentalitäten greifen – und dass das bei den Palästinensern nicht anders ist, macht die Sache nicht leichter, sondern im Gegenteil sehr viel schwerer.

domradio.de: Das klingt nach einem aussichtlosen Teufelskreis. Was würden Sie denn den Verantwortlichen in Israel raten ‑ wie würde eine angemessene Reaktion aussehen?

Ginzel: Das ist das ganz große Problem: Reagiert eine Seite nicht, ist die andere Seite davon überzeugt, die anderen wären schwach, und wird erst recht draufschlagen. Das ist die Logik dieses Nahostkonfliktes, und hinzu kommt natürlich, dass sich alle Seite insofern bedroht fühlen, als die Welt dort zu Bruch gegangen ist. Die eigentlichen großen Mächte Ägypten, Syrien, Irak sind mit sich selbst beschäftigt, sind teilweise in Auflösung verfallen. Die Palästinenser haben überhaupt keine Mentoren mehr, sie haben soviel laviert, dass sie zwischen allen Stühlen sitzen, sie haben keine Fürsprecher mehr. Die Ägypter misstrauen ihnen zutiefst und machen die Tunnel zum Hamas-regierten Gazastreifen dicht. Hier haben wir ein Szenario – im Hintergrund Iran mit seinen Machtansprüchen, Ägypten als der kranke Mann am Nil – es ist eine wahnsinnig schwierige Situation, von daher auch die Stunde der Emotionen, wo man solche Verbrechen jetzt leider Gottes auf beiden Seiten zum Anlass nimmt, um Frustrationen und Ängste loszuwerden, um ein Feindbild zu beschwören und die eigenen Reihen geschlossen zu halten. Zum Frieden führt das alles nicht.

domradio.de: Gar nicht reagieren geht nicht, sagen Sie. Was könnte denn ein Hoffnungsschimmer Richtung Frieden sein? Was könnte man tun?

Ginzel: Es gibt im Moment keinen Hoffnungsschimmer, denn die gesamt Region ist ja wiederum in das Weltgeschehen eingebettet, d.h. wir haben weder in China noch in Russland eine klare Haltung, auch im Grunde genommen in den USA nur halbherzig und bei den Europäern weiß man nicht so genau, wo sie stehen. Es ist eine Katastrophe, und wenn nicht irgendwann die Menschen selbst, wenn der Leidensdruck bei den Menschen nicht irgendwann so groß ist, dass sie von sich aus STOPP sagen, dann weiß ich nicht, was werden soll. Man kann nur hoffen, dass es eine der üblichen Auf- und Abbewegungen ist und dass die Welle irgendwann nach unten geht und die besonnenen Kräfte, die es ja Gott sei Dank auch gibt, sich gegen die hysterisierten Massen durchsetzen können.

Quelle:
DR