Horst Huhn und Josef Thöne sind keine Unbekannten in Hamburg. Man hört oft von ihnen. Allerdings dürften die meisten Hamburger sie noch nie gesehen haben. Die Herren sind Türmer am bekanntesten Wahrzeichen der Stadt, dem Michel. Jeden Werktag erklimmt einer von beiden die 279 Stufen des Turms der Hauptkirche Sankt Michaelis und bläst vom siebten Stock um 10.00 Uhr und um 21.00 Uhr jeweils einen Choral über die Dächer der Stadt - in alle vier Himmelsrichtungen. Sonntags um 12.00 Uhr. Am Montag blicken die beiden freiberuflichen Musiker auf 30 Dienstjahre zurück.
Huhn (66) und Thöne (62) setzen eine Tradition fort, die es seit 300 Jahre am Hamburger Michel gibt. Schon die 1661 eingeweihte Große Michaeliskirche hatte einen Türmer. Bis 1861 war der Trompeten-Choral für die Bewohner und für Reisende das Zeichen, dass die Stadttore geöffnet beziehungsweise geschlossen werden. Heute ist ihre Arbeit, die beide sich teilen und nebenberuflich ausüben, eine Touristen-Attraktion. Für die Hamburger ist sie ein Stück Heimat. Viele halten kurz inne, wenn die Trompete ertönt, blicken zum Michel empor und fühlen sicher auch ein wenig hanseatischen Stolz in sich aufkommen.
Türmer, Türmerinnen und Türmerfamilien
Die Türmer vom Michel sind nicht die einzigen in Deutschland. An gut einem halben Dutzend Orten versehen noch Türmer als Wächter ihren Dienst. So ruft etwa auf dem Turm der Sankt-Georgs-Kirche im bayerischen Nördlingen ein Vertreter der Zunft am Abend halbstündlich "So Gsell, so!". Vom Nordturm der Sankt-Johannis-Kirche in Göttingen spielt ein Turmbläser seit dem Reformationstag 1992 jeden Samstag um 11.00 Uhr für eine Viertelstunde Choräle mit dem Flügelhorn. Und vom Hausmannsturm in Helmstedt wird von April bis Oktober jeden Samstag um 12.00 Uhr vom "Hausmann und seinen Gesellen" durch Choräle der bevorstehende Sonntag "angeblasen".
Türmerinnen sind selten. Auf Münsters Lamberti-Kirchturm versieht mit Martje Salje seit 2014 eine Frau dieses Amt. Sie ist die erste in der seit dem Jahr 1383 verbrieften Tradition in Münster. Und auch in Bad Wimpfen, wo das Türmeramt ebenfalls seit dem 14. Jahrhundert besteht, ist mit Blanca Knodel seit 1996 eine Türmerin im Dienst. Das Besondere an ihr: Sie wohnt sogar oben im Turm in einer rund 55 Quadratmeter großen Dienstwohnung. Auf dem Turm der Sankt-Annen-Kirche in Annaberg-Buchholz schließlich lebt gleich eine ganze Türmerfamilie.
Eine protestantische Tradition
Überall hatten die Türmer einst die Aufgabe, vor Gefahren zu warnen - seien es Brände oder herannahende Feinde. In Münster ist die Türmerin noch heute Teil des Brandschutzes und telefonisch mit der Feuerwehr verbunden. Nach wie vor werden Brände in der Altstadt manchmal zuerst vom Lamberti-Kirchturm aus entdeckt. Weitere Aufgaben der Türmer sind und waren das stündliche Schlagen der Glocken beziehungsweise das "Tuten" mittels eines Horns zur Zeitansage. In Hamburg war der Trompeten-Choral bis zur Aufhebung der Torsperre zum 1. Januar 1861 das Zeichen für die Öffnung und Schließung der Stadttore.
Das Blasen vom Turm ist eine rein protestantische Tradition, die erst mit der Reformation aufkam. Der gespielte Choral galt als eine Art Predigt, die vom Trompeter über die Dächer der Stadt zu den Menschen getragen wurde. Wer ihn hörte, konnte mitsingen und damit auch mitbeten.
Die Michel-Türmer werden an ihrem Jahrestag wie an jedem Tag einen Choral in alle Himmelsrichtungen blasen - beginnend bei dem Ostfenster und dann weiter im Uhrzeigersinn. "Zum Lobe Gottes, den Menschen zur Freude!" - so steht es auf einer Tafel am Turmaufgang. Das ist die Tradition. Aber ausnahmsweise werden Huhn und Thöne das um 10.00 Uhr gemeinsam tun: Zwei Türmer, zwei Trompeten, ein Choral. Die Hamburger und die Touristen werden hinaufsehen, horchen und vielleicht auch mitsingen.