DOMRADIO.DE: Bruder Markus, überraschen Sie diese Zahlen?
Bruder Markus Fuhrmann (Franziskanermönch und Obdachlosenseelsorger im Erzbistum Köln): Also ein Anstieg der Wohnungslosenzahlen überrascht mich grundsätzlich nicht, was einfach mit der Wohnungssituation in Deutschland und auch in vielen mitteleuropäischen Metropolen zu tun hat. Die Mieten werden immer höher. Insofern ist der Wohnungserhalt für manche schwierig. Hinzu kommen Lebensunfälle: Menschen, die vielleicht auch vorher schon in prekären Situationen waren, verlieren ihren Wohnraum und finden keine neue Unterkunft.
Und dann gibt es noch Menschen, die auch noch andere Handicaps zusätzlich haben, sodass es für sie schwierig wird, wieder in ein geordnetes Leben zurückzufinden mit Wohnung und mit Arbeit. Das ist dann oft eine Herausforderung, die gar nicht mehr zu bewältigen ist ohne fremde Hilfe.
DOMRADIO.DE: Was sind die Gründe dafür, dass so viele Menschen wohnungslos sind?
Bruder Markus: Wenn man in irgendeiner Art und Weise in eine soziale Krise gerät, zum Beispiel durch ein Zerbrechen der Beziehung mitsamt Scheidung, ein Verlieren des Arbeitsplatzes und ähnliche Situationen. Dann ist es schwieriger geworden für denjenigen, der den Wohnraum verlässt, wieder einen Weg zu neuem Wohnraum zu finden. Einfach, weil dieser Wohnraum rarer und vor allem teurer geworden ist. Innenstädte sind für viele Menschen gar nicht mehr erschwinglich.
Die Menschen, mit denen ich auf der Straße zu tun habe in der Wohnungslosenseelsorge sind ja in der Regel Obdachlose. Das sind dann sogar Menschen, die noch nicht mal in provisorischem Wohnraum leben, sondern auf der Straße. In solchen Fällen kommt oft eine Suchtproblematik dazu, da kommt oft eine psychische Erkrankung dazu. Ganz oft auch ein Schicksalsschlag, der den Menschen den Lebensmut genommen hat und damit die Motivation, überhaupt noch einmal was aus dem Leben machen zu wollen. Manche, die sich aufgegeben haben. Diese Faktoren sind dann noch erschwerend, jemanden wieder in Wohnraum zu bringen oder überhaupt erst einmal wieder in ein, aus unserer Sicht, normales Leben.
Aber: Was ist eigentlich normales Leben? Ich kenne einen Wohnungslosen, der ist viel am Rhein unterwegs und macht Tai Chi. Er lebt auf der Straße und er will das auch. Und wenn man ihn so erlebt, dann denkt man auch, dass er ein Lebenskünstler ist, für den das so auch passt.
Aber die überwiegende Mehrheit, die will das nicht. Die sind nicht freiwillig auf der Straße, die sehnen sich auch nicht nur nach einem Obdach der Seele, sondern eben auch ganz einfach nach einem Dach über dem Kopf. Sie brauchen den damit einhergehenden Schutz. Auch sehnen sie sich nach einem strukturierten Tagesablauf, materieller Sicherheit und einem vernünftigen sozialen Netzwerk. Auf der Straße hat man in der Regel keine Freunde, das sind oft eher Zweckgemeinschaften. Das ist eine schwierige Situation. Das geht wirklich nur mit einem breit aufgestellten Hilfesystem, was wir hier in Köln - Gott sei Dank - zu einem guten Teil haben.
DOMRADIO.DE: Laut den aktuellen Zahlen sind auch zunehmend Asylsuchende von Obdach- und Wohnungslosigkeit betroffen. Können Sie das aus Ihrer eigenen Erfahrung bestätigen?
Bruder Markus: Ansatzweise. Es wird jetzt bunter in der Obdachlosenszene. Es sind auch Menschen mit Migrationshintergrund und auch mit Fluchterfahrung dabei, afrikanische Menschen. Oder aus Syrien. Sie sind durchgerutscht durch das Hilfesystem. Eigentlich ist das Hilfesystem ja auch für die Flüchtlinge schon so geregelt, dass sie dann zumindest in Flüchtlingsunterkünften sein müssten bis eine Vermittlung stattfindet.
Aber auch da gibt es Menschen, die aufgrund ihrer Fluchterfahrungen traumatisiert oder psychisch krank sind. Oder sie gehen aufgrund von familiären Bindungen woanders hin als geplant. Dabei landen dann manche auf einmal auf der Straße, kommen dann in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe und müssen dann weitervermittelt werden. Es gibt aber auch solche, die schon einen festen Status haben und jetzt tatsächlich aber auch obdachlos sind, weil sie keine Wohnung, keine Arbeit gefunden haben.
DOMRADIO.DE: Seit 2004 hat die katholische Obdachlosenseelsorge in Köln eine eigene Räumlichkeit im ehemaligen Franziskanerkloster in der Ulrichgasse, das Gubbio. Welche Angebote und Hilfestellungen werden den Wohnungslosen dort geboten?
Bruder Markus: Im Gubbio ist unsere Anlaufstelle an zwei Tagen geöffnet. In der ersten Hälfte des Nachmittags geht das los mit einem offenen Café. Man kann sich dort aufhalten und erzählen. Manche möchten gerne ein Einzelgespräch haben. Ein paar Leute kommen aber ganz ausdrücklich, um mit mir im Gespräch ihr Leben tatsächlich ins Gebet zu bringen. Dieser erste Teil des Nachmittags ist so eine Art gemütliches Beisammensein.
Im zweiten Teil gibt es immer ein Angebot, zum Beispiel ein Besuch im Kino, ein Gottesdienst, eine Art Meditation oder andere Ausflüge. Einmal im Monat haben wir Samstags einen großen Gottesdienst mit anschließendem Essen, sodass das Ganze auch im Lauf der Jahre zu so einer Art Personalgemeinde geworden ist. Es gibt einen, der sagt, wenn er bei uns durch den Pfortentrakt vom früheren Kloster in den offenen Treff hereinkommt: "Das ist ja unser Pfarrsaal!" Wenn er damit sagt, dass er hier zuhause ist - auch kirchlich - und damit in der Kirche einen Ort für sich gefunden hat, dann ist das wunderbar.
DOMRADIO.DE: Also ist das schon eine feste Gemeinschaft, die sich da herausgebildet hat?
Bruder Markus: Ein harter Kern und immer wieder Neue, die dazu kommen - das macht es ja auch lebendig. Ich habe keine Ahnung, ob die alle katholisch sind oder nicht. Das ist ganz bunt. Die wissen alle, dass das hier eine kirchliche Anlaufstelle ist. Diese Anlaufstelle unterscheidet sich auch noch einmal von anderen Kontakt- und Beratungsstellen. Ich denke, bei uns ist das vielleicht ein bisschen familiärer.
DOMRADIO.DE: Angesichts der aktuellen Zahlen: Gibt es etwas, was sie von Politik und Gesellschaft fordern, um diesen hohen Zahlen von Wohnungslosigkeit entgegenzuwirken?
Bruder Markus: Ja, vor allen Dingen: hartnäckig dranbleiben. Das Problem haben alle erkannt und es ist ja auch fast täglich in den Nachrichten. Das ist nicht die Frage. Es gibt zu wenig günstigen Wohnraum gerade in den Städten. Das wird man nicht einfach ändern können. Insofern muss da weiter über die Begrenzung von Mietpreisen nachgedacht werden.
Es muss auf alle Fälle viel mehr sozialer Wohnraum gebaut werden. In Köln ist das sicherlich spannend, das Projekt am Deutzer Hafen genau im Auge zu behalten. Aufzupassen, dass das wirklich kein zweiter Rheinauhafen wird, sondern das bietet jetzt eine Chance, da auch nochmal anders vorzugehen. Man darf nicht nachlassen bei den Integrationshilfen und Wohnprojekten. Da sind wir in Köln schon ganz gut aufgestellt. Da wird viel gemacht, aber da müssen wir hartnäckig dranbleiben. Das Problem wächst uns sonst über den Kopf.
Das Interview führte Moritz Dege.