Riga. Wer durch die Altstadt läuft, kommt an den Bremer Stadtmusikanten vorbei. Esel, Hund, Katze und Hahn stehen da aufeinander, eingerahmt von einer massiven Metallplatte. Gequält-überraschte Gesichter schauen da durch. "War ja auch überraschend, als der Eiserne Vorhang fiel." Das sagt ein sympathischer Herr in gepflegter Garderobe. Sein Name ist Rihards Rasnacis. Die Skulptur sei ein Geschenk aus Bremen gewesen, sagt er, der Partnerstadt Rigas. Und wer die Nasen der Tiere reibt, den erwartet das Glück, erzählt man sich.
Rasnacis sitzt in einem Sessel, im Gästeraum der Kirche Sankt Maria Magdalena und trägt heute, wie an den meisten Tagen, sein Kollar. Auf dem Tisch liegen Bluetooth-Mikrofone. An den Wänden hängen Bilder, ein gesticktes vom letzten Abendmahl, ein Foto von Papst Franziskus, eins von Papst Johannes Paul II. Ob er die Nasen auch schon gestreichelt hat? Ja. Ob es ihm Glück gebracht hat? Weiß er nicht. Aber Glück spielte in seinem Leben schon eine große Rolle. Es beginnt damit, dass er lebt, sagt er, und stiftet damit Verwirrung. Dann lacht er. Und beginnt zu erzählen.
Glück gehabt
Es war ja nicht einfach, als die Sowjets an der Macht waren. Am Anfang waren da die Geschichten seiner Eltern. Seine spätere Mutter war 12 Jahre alt, als sie nach Sibirien verschleppt wurde, Stichwort "Märzdeportationen". Dort musste sie, so erzählt es Rasnacis, im Winter Bäume fällen. Viele starben. Sie überlebte.
Während sie im Winter Bäume schlug, studierte sein späterer Vater in Riga am Priesterseminar. Denn das war es, was er eigentlich wollte: Ein Leben als Geistlicher, Zölibat, Kinderlosigkeit und alles, was dazu gehört. Doch Stalin schloss das Priesterseminar und Rihards Vater war es verboten Priester zu werden. Der Katholizismus war vom System unerwünscht und verhasst. Unliebsame Priester und Laien wurden verfolgt, deportiert und umgebracht.
Rasnacis Vater fand sich mit dem Gedanken ab, dass das Leben manchmal neue Ideen bringt. Er lernte eine Frau kennen und sie gründeten eine Familie. So kam Rasnacis auf die Welt.
Die Erziehung
Er wurde 1973 geboren, vor Perestroika, Transparenz, Offenheit und mit Witzen über Breschnew oder Stalin am Küchentisch erzogen. Aber, das war klar, diese Witze durfte er nicht weitererzählen. Bis er zehn oder elf war, dachte er, das wären die Spielregeln des Kommunismus. Er dachte, dass jeder das so macht, dass jeder diese antikommunistische Haltung hat und dass jeder so tut, als liebe er ihn in Wirklichkeit.
"Und dann wurde mir irgendwann klar", sagt Rasnacis jetzt ein wenig belustigt, "dass wir zwei verschiedene Leben führten. Eins in der Familie und der Kirche, eins in der Schule und Öffentlichkeit". Viele Mitschüler glaubten, was in der Schule unterrichtet wurde. Und dann habe er eben auch so getan, als würde er die Regierung mögen. "Ein Versteckspiel", sagt er, und lacht. "Das Leben ist schön. Humor macht es leichter."
Der Anfang vom Ende
Die Zeit auch. 1985, Rasnacis war gerade 12 Jahre alt geworden, sein Lieblingsspiel zuhause war Beerdigung; und den Moment der Auferstehung liebte er besonders – da ging es mit der Perestroika los. Der Anfang vom Ende der Sowjetunion. Langsam begann ein neues Lebensgefühl, und Rasnacis machte seinen Abschluss auf einer Handelsschule. Dann begann er eine Ausbildung in der Bank. Bis ein alter Traum ihn einholte.
Solange er zurückdenken kann, sagt er, wollte er am Altar stehen. Er schaute den Messdienern zu, war neidisch, und außerdem zu klein zum Ministrieren. Jedes Mal lief er nach der Messe zum Altar, um zu schauen, wie groß er noch werden muss. Denn um Messdiener zu werden, so seine Vorstellung, musste er nur groß genug sein, um die Gaben am Tisch zu erreichen. Wie Kinder sich eben die Welt erklären. Der Traum vom Priestertum rückte in den Hintergrund. Bis 1993 Papst Johannes Paul II. Riga besuchte.
Rasnacis war beteiligt an der Organisation, erzählt er, und auf einmal hatte er keine Zweifel mehr. Er musste die Lehre abbrechen und Priester werden. Zölibat? Egal. Die Kirche war sein Platz im Leben. Es war ein starkes Gefühl, sagt er. Es trägt ihn bis heute. Und jetzt hat er gute Freunde bei Banken. Auch nicht schlecht.
Ein widersprüchliches Volk
Rasnacis besuchte das Priesterseminar in Riga, wie sein Vater. Mit dem Unterschied, dass er es abschließen durfte. Er lernte seinen Beruf von der Pike auf und war begeistert von dem Leben nach der Sowjetunion. Die Kirche wurde sichtbarer und er durchlief die Ochsentour: Kaplan in kleiner Gemeinde, 1999 die Priesterweihe, verantwortlich für eine kleine Gemeinde. Und immer an der Seite: die russisch-orthodoxen Nachbarn. Er weicht Fragen zum Verhältnis zu der russisch-orthodoxen Kirche zunächst aus.
Er will lieber über die Letten sprechen. Weil es nicht so leicht ist, dieses Volk zu verstehen. Auf der einen Seite gelten sie als stolze Europäer, unterstützen die Ukraine und warnen am lautesten vor der Bedrohung aus dem Osten, auf der anderen Seite haben sie eine klare Meinung zum Umgang mit Flüchtlingen: Sie wollen keine aufnehmen. Deswegen, sagt Rasnacis, seien viele Letten wütend auf Papst Franziskus. Weil er will, dass sich Christen um Flüchtlinge kümmern. Rasnacis mag Franziskus. Er ist auf seiner Seite: "Wo bleibt da sonst die Gastfreundschaft und die kirchliche Soziallehre?"
Und es geht weiter mit den Widersprüchen. Auf der einen Seite gilt Lettland als Land mit starken Vorbehalten gegenüber der LGBTQ-Community, auf der anderen Seite unterstützt das Land ihren schwulen Präsidenten. Wie geht das? Was die Menschen zuhause machen, sagt Rasnacis, ist doch Privatsache. Hinter verschlossenen Türen geht das niemanden etwas an. Aber in der Öffentlichkeit, findet er, sieht das anders aus. In einer traditionellen Gesellschaft wie der Lettischen, brauche es Regeln. Die Bibel könne da gut als Maßstab gelten, sagt er. Sie sei zumindest seine Autorität.
Jesus macht sich gut als Vorbild
Wir müssen, sagt er, unser Denken ändern, unsere Mentalität, und Minderheiten in der Kirche willkommen heißen. Nicht nur Schwule und Lesben, auch Flüchtlinge, einfach alle. Er vergleicht es mit der Zöllnergeschichte: "Ist Jesus etwa zum Zöllner gegangen und sagte: Benimm dich erst gut, dann komme ich zu dir? Oder war er einfach so da?", fragt er.
Rasnacis mag es nicht, wenn Menschen ausgeschlossen werden. Deshalb beginnt er schon sehr früh, vor dem Zeitalter von Beamern, die Liturgie auf die Leinwand zu bringen, anfangs noch mit Overheadprojektoren: Wann steht man? Wann kniet man? Was steht an? Predigt, Gabenbereitung, Liedtexte. Denn auch das ist Gastfreundschaft, sagt er. Keiner soll sich Sorgen machen, dass er nicht weiß, was er in der Kirche tun soll. Eine barrierefreie Messe. Und außerdem ist er ein 'Techniknerd'.
Schon lange vor der Corona-Pandemie streamte er die Gottesdienste aus seiner Gemeinde, der Sigualdaer Kirche. 200 Leute in der Messe, 100 Zuschauer vor ihren Bildschirmen. Jeder soll abgeholt werden, wiederholt er, weshalb er auch einen Pfarrgemeinderat in seiner Gemeinde gegründet hat. Ein Stück Kirchendemokratie. Das gibt es nur selten im Baltikum.
Karriere
Vielleicht ist er deswegen heute Direktor von EWTN in Lettland, dem christlichen Fernsehsender. Weil er außerhalb von Kirchenmauern denkt und seine Glaubenserfahrungen mit allen Menschen teilen möchte. Womit er dann doch wieder bei den russisch-orthodoxen Christen wäre.
Die Menschen aus Lettland, die auf Putins Seite stehen, zeigen den russischen Präsidenten als Helden, der für traditionelle Werte steht, erzählt Rasnacis. Aber was ist davon wahr? Hohe Scheidungsraten, hohe Selbstmordraten, keine Religionsfreiheit, sagt er. Nur wer denkt, ist frei und selbstständig. Und in Russland nur, wer an die Regierung und die orthodoxe Kirche glaubt. Es schmerzt ihn, darüber zu sprechen. Die Ökumene ist nicht komplett, sagt er, wenn die Glaubensbrüder aus dem Osten fehlen. "Wir brauchen sie."
Deshalb lädt Rasnacis sie immer zu den Veranstaltungen ein, doch sie kommen nicht. Wann werden sie die Einladung annehmen? Möchte er wissen. Nicht nur formell, sondern mit dem Herzen?
Was bleibt?
Zukunftsmusik. Es ist schwierig geworden seit dem Krieg gegen die Ukraine. Doch sein Glaube und seine Hoffnung bleiben stark. Selbst eine Krebsdiagnose konnte seinen Glauben nicht erschüttern. Kürzlich wurde er operiert. Ein Tumor wurde entfernt, seine Niere durfte er behalten. Andere hatten größere Sorgen um ihn, als er selbst, sagt er. "Wenn Gott gewollte hätte, dass ich zu ihm komme, was soll ich schon dagegen haben?"