domradio.de: Viele Menschen haben das Gefühl, dass mit Brexit und Trump, Erdogan, Polen und Ungarn die ganze politische Ordnung ins Wanken gerät oder bedroht ist. Sie schauen auf viele Jahrzehnte Politik. Sind Sie auch beunruhigt?
Heiner Geißler (CDU-Politiker und Buchautor): Ich bin damals in die Politik gegangen mit vielen anderen jungen Menschen, weil wir den Nationalstaat abschaffen wollten - und zwar endgültig. Denn der Nationalstaat hat keine Zukunft. Es gibt zwar einige, die den Nationalstaat wiederbeleben wollen – doch das dürfen wir nicht zulassen. Die haben keine Mehrheit; das ist gut so. Aber es muss auch so bleiben. Und das setzt voraus, dass in den Demokratien, auch in den europäischen Ländern, die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Menschen Europa vertrauen und sich nicht so entscheiden wie die Amerikaner zugunsten dieses Präsidenten Trump.
domradio.de: Die "Süddeutsche Zeitung" hat vor ein paar Monaten zum ersten Mal von einer internationalen reaktionären Rechten gesprochen, also davon, dass es nicht nur hier und da vereinzelte nationale Erscheinungen sind, sondern eine internationale Bewegung. Steckt da dann nicht eine Kraft hinter, die nicht so einfach in Schach zu halten ist?
Geißler: Rechtspopulismus ist das Ergebnis von Gedankenfaulheit und Vergesslichkeit. Sie rührt von Menschen her, die ihre existentielle und soziale Situation negativ beurteilen. Diese Gedankenfaulheit und die Dummheit dieser Leute kann man bekämpfen. Die andere Voraussetzung ist, dass alle Menschen, unabhängig wo sie wohnen und wo sie herkommen, das Recht haben, menschenwürdig zu leben. Das muss die Politik garantieren und dafür braucht sie ein ethisches Fundament. Das ist mit der sozialen Marktwirtschaft der Fall. Deswegen geht es uns besser als anderen Ländern, die das nicht haben, wie etwa die USA, wo vierzig Millionen Amerikaner keine Krankenversicherung haben. Und dass die sich von der Demokratie abwenden und einem nachlaufen, der lügt, betrügt, keine Steuern bezahlt, gegen Ausländer hetzt und Frauen diskriminiert - darüber braucht man sich da nicht zu wundern.
domradio.de: Sie waren so acht, neun Jahre alt, als Hitler an die Macht gekommen ist. Inwiefern haben Sie unter Verfolgung gelitten?
Geißler: Ich bin Jahrgang 1930; Hitler kam 1933 an die Macht. Mein Vater war Beamter und in der Zentrumspartei. Zu Hause waren wir fünf Kinder. Weil er sich nicht an die Nazi-Ideologie angepasst hat, wurden wir dauernd strafversetzt. Alle zwei Jahre habe ich eine andere Schule besucht. Das ist natürlich in meiner Familie diskutiert worden. Ich habe selber Dinge erlebt, die mich nicht nur entfremdet, sondern zum Gegner des Nationalsozialismus gemacht haben - schon als kleiner Bube.
domradio.de: Sie haben in der Zeit der Nationaldiktatur zwei schlimme, gravierende Erlebnisse gehabt. Welche?
Geißler: Nicht nur die ständigen Strafversetzungen meines Vaters haben mich geprägt. Ich erinnere mich, dass ich Klavierstunden bei einer Frau in Tuttlingen nahm, die hieß Judith Holz. Eines Tages - das war 1942 und ich wollte gerade zu ihr - war sie verschwunden. Die Türen waren verschlossen, in den Nachbarhäusern bewegten sich nur die Vorhänge - die Leute wollten anscheinend wissen, wer da zu dieser Frau will.
Judith Holz war Jüdin und war von den Nazis abgeholt worden. Sie ist dann später in Mauthausen umgebracht worden. Ich habe in Spaichingen das Kriegsende erlebt, im Winter 1944- 1945 war dort ein Konzentrationslager als Nebenlager eingerichtet worden. Ungefähr 150 Menschen, darunter auch viele Juden, wurden dort festgehalten und mussten Zwangsarbeit leisten.
An einem kalten Wintertag haben die KZ-Wächter, die SS, ungefähr zehn Leute nackt ausgezogen, an Pfähle gebunden und mit Wasser übergossen. Wir haben die Schreie dieser Menschen über eine Stunde lang in der ganzen Stadt hören müssen, bis die erfroren waren.
Allein diese beiden Erlebnisse haben mich zu einem entschiedenen Gegner aller nationalpopulistischen, aber auch rechtsradikalen Parteien gemacht. Das hat mich mein ganzes politisches Leben nicht mehr verlassen.
domradio.de: Sie haben ja Ihr Abitur bei den Jesuiten abgelegt. Danach sind Sie auch in das Noviziat gegangen. Sie haben schon oft erzählt, dass Ihnen dann klar geworden ist, dass von den drei Gelübden, die Sie hätten ablegen müssen, nicht Armut das Problem gewesen wäre. Inwieweit war "Gehorsam" ein Thema?
Geißler: Ja, das war ganz sicher ein Thema. Das hat mich auch mein ganzes Leben lang begleitet. Ich war immer ein Grenzgänger. Das heißt, ich habe mich nicht einbinden lassen in irgendwelche Dogmen. Das gilt sowohl für die Religion als auch für die Politik. Und deswegen habe ich mich in der Politik auch nie untergeordnet.
Ich war in der Politik glücklicherweise in der Lage, auch selbständig zu entscheiden. Als Abgeordneter und auch als Minister musste ich Terminpläne einhalten. Das ist richtig. Aber sonst habe ich mir mein eigenes Urteil gebildet. Das kann man nur erreichen, wenn man auch beruflich unabhängig ist. Ich habe immer gewusst, wenn ich das nicht mehr aushalten kann, was die Partei beschließt, dann habe ich immer die Möglichkeit, wieder in den Beruf zurückzukehren.
Und das hat mir die Unabhängigkeit gegeben, eben Grenzgänger zu sein. So war auch mein Wahlkreis, der ja an das Elsass grenzt. Und so habe ich auch meine Politik immer verstanden.
Das Interview führte Angela Krumpen.