KNA: Herr Calderon, wie erleben Sie derzeit die Situation an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze?
Oscar Javier Calderon (Koordinator des Flüchtlingshilfswerks der kolumbianischen Jesuiten): Was wir gerade erleben, ist eine wirkliche humanitäre Krise. Ausgelöst wurde sie durch eine erzwungene Migration der venezolanischen Bürger aus ihrer Heimat: durch das Fehlen an Grundnahrungsmitteln, Medikamenten und Produkten des täglichen Bedarfs sowie durch mangelnde Sicherheit auf den Straßen. Die Krise begann vor ungefähr zwei Jahren, als Venezuela zunächst 22.000 Kolumbianer abgeschoben hat. Darauf folgte eine Grenzschließung. Als die Grenze wieder geöffnet wurde, begann die Fluchtbewegung der Venezolaner. Sie hält bis heute an.
KNA: Wie viele venezolanischen Flüchtlinge befinden sich momentan in Kolumbien?
Calderon: Die Regierung spricht von etwa 500.000. Niemand weiß aber, wie viele über die grüne Grenze kommen. Es gibt inzwischen Schleuserbanden. Eine zuverlässige Schätzung ist da nicht möglich. Es sind sehr viele.
KNA: Ist Kolumbien auf diese humanitäre Krise vorbereitet?
Calderon: Kolumbien war durch seine jüngere Geschichte mit dem bewaffneten Konflikt kein Land, das Flüchtlinge aufgenommen hat, sondern eher eines, das selbst Flüchtlinge produziert hat. Das bedeutet natürlich auch, dass das Land nicht wirklich auf diese Krise vorbereitet ist. Die Politik muss nun Antworten entwickeln und verstehen, dass Kolumbien historisch betrachtet einmal ein Land von Einwanderern war. Kolumbien hat allerdings keine wirkliche Asylpolitik, die den aktuellen Herausforderungen gerecht wird.
KNA: Was sind die größten Probleme, mit denen die venezolanischen Flüchtlinge zu kämpfen haben?
Calderon: Uns besorgt, dass kein Zugang zu medizinischer Versorgung gegeben ist. Das ist ja ein Grund, warum die Venezolaner ihrer Heimat verlassen. Es gibt in Venezuela inzwischen eine hohe Kindersterblichkeit. Viele schwangere Frauen kommen nach Kolumbien, damit ihnen hier geholfen wird. Da müssen wir helfen. Die Leute kommen auch, um zu arbeiten, es fehlt allerdings an Arbeitsplätzen.
KNA: Es gibt Berichte über ausländerfeindliche Übergriffe...
Calderon: Die Venezolaner kommen in Städte und Gemeinden, die selbst ihre Probleme mit Arbeitslosigkeit haben. Natürlich kommt es da zu Konflikten. Insbesondere im informellen Sektor, wo es zu einem Wettbewerb unter einander kommt. Die Folge sind Streitigkeiten auf lokaler Ebene.
KNA: Was genau tut Ihre Organisation, um den Flüchtlingen zu helfen?
Calderon: Wir sind eine katholische Laien-Organisation unter dem Dach der Jesuiten, die versucht, den Menschen vor Ort zu helfen - so gut es eben geht. Wir haben natürlich Erfahrung im Umgang mit Flüchtlingsproblematik - durch den jahrelangen internen kolumbianischen Konflikt und die daraus resultierenden Binnenflüchtlinge. Wir versuchen, eine Erstversorgung der ankommenden Flüchtlinge zu ermöglichen. Unsere besondere Aufmerksamkeit gilt den Schwächsten: den Frauen und Kindern.
Es gibt in den Grenzstädten inzwischen zahlreiche venezolanische Obdachlose, die auf der Straße leben. Wir gehen von etwa 2.000 Menschen allein im Bundesstaat Norde de Santander aus. Unsere wichtigste Aufgabe ist, diesen Menschen ein Obdach zu bieten und humanitäre Hilfe zu leisten. Unterstützt wird unsere Arbeit unter anderem durch die Caritas aus Deutschland sowie von den Jesuiten aus den USA und aus Rom.
Das Interview führte Tobias Käufer.