Dramatischer Appell von Europas oberstem Katholiken

"Hier zeigt sich, ob Europa noch christliche Wurzeln hat"

Nach der von der Türkei verkündeten Öffnung der Grenze zur EU sind griechische Sicherheitskräfte erneut mit Blendgranaten und Tränengas gegen Migranten vorgegangen: Kardinal Hollerich mit einem dramatischen Appell an die Staatengemeinschaft.

Ein Migrant rennt über ein Feld in der Nähe des türkisch-griechischen Grenzübergangs Pazarkule in Edirne / © Darko Bandic (dpa)
Ein Migrant rennt über ein Feld in der Nähe des türkisch-griechischen Grenzübergangs Pazarkule in Edirne / © Darko Bandic ( dpa )

DOMRADIO.DE: In Griechenland und Bulgarien gibt es Notsituationen mit den Flüchtlingen, die über die türkische Grenze kommen wollen. Sie haben gemeinsam mit anderen Kardinälen vor ein paar Wochen schon ein Schreiben an die EU-Kommission geschickt. Was muss da passieren? Wie muss die EU, wie muss Europa mit der Lage umgehen?

Jean-Claude Kardinal Hollerich SJ (Erzbischof von Luxemburg und Präsident der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft / COMECE): Wir sind abgestumpft in unseren Gefühlen. Unsere erste Reaktion ist nicht mehr christlich. Leute, die wegen der grausamen Kriegsgeschehen aus Syrien fliehen, werden nur als ein Problem für Europa empfunden und nicht mehr als notleidende Menschen aufgenommen. Da haben wir ein Problem in unserem Christsein, in unserem Menschsein. Ich schäme mich, wenn ich lese, dass Flüchtlinge als Problem abgestempelt werden. Wenn es heißt: Wie können wir uns vor den Flüchtlingen schützen?

Stellen Sie sich vor, beim guten Samariter würde das so enden? Das ist mein Problem. Als Christ kann ich damit nicht einverstanden sein. Und ich möchte auch die Worte von Papst Franziskus unterstreichen, der sich immer wieder für die Aufnahme von diesen Menschen ausspricht. Das sind Menschen, das sind Kinder. Das sind sehr oft kranke Leute. Das sind Leute, die Hilfe brauchen. Und wenn wir nur mit Tränengas und mit Waffengewalt auf diese Not reagieren, haben wir einen großen Teil unserer Christlichkeit in Europa verloren.

DOMRADIO.DE: Wie wäre denn die Alternative, damit umzugehen? Es gibt ja die Idee, direkt die Leute zu verteilen, die über die Grenze kommen, denn Grenzen dicht zu machen, sagen Sie, ist nicht die Lösung.

Hollerich: Wir müssen den Griechen helfen! Ich verstehe zum Teil die Wut der Bürger auf Lesbos, wo die Zahl der Flüchtlinge fast größer ist als die der Einwohner. Da leben Flüchtlinge in so erbärmlichen Bedingungen, dass auch Aggressivität entsteht.

Wir können Flüchtlinge aufnehmen! Die Gemeinschaft Sant'Egidio hat uns das vorgemacht, wie das geht: Dadurch, dass wir humanitäre Korridore schaffen und dass unsere Pfarreien, unsere Diözesen Flüchtlinge aufnehmen. Da sehe ich große Vorteile. Erstens werden die Ärmsten ausgewählt, die kommen, nicht die Stärksten, nicht die Finanzstärksten, die sich durchschlagen bis zu uns. Dann werden Leute von Gemeinschaften aufgenommen. Und die Leute integrieren sich dann sehr schnell. Eigentlich alle Flüchtlinge, die über diesen Weg nach Italien gekommen waren, haben sich sehr, sehr gut integriert. Wir müssen unsere Gemeinden und unsere Herzen mehr öffnen, um Länder wie Griechenland zu entlasten.

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt denn der Vatikan? 

Hollerich: Der Heilige Stuhl tritt immer für die Ärmsten der Armen ein. Und das sind in diesem Falle die Flüchtlinge. Das sind keine Profiteure. Das sind keine Leute, die aus Profitgier ihr Land verlassen und diese Strapazen auf sich nehmen. Das sind Menschen in großer Not. Ich habe so viele Menschen in Not gesehen. Als Christen, das ist auch die Position des Heiligen Stuhls, können wir nicht unsere Ohren und unsere Augen vor der Not dieser Leute verschließen. Darin zeigt sich eigentlich, ob Europa noch christliche Wurzeln hat oder nicht. Wenn wir nicht mehr fähig sind, Leute in größter Not aufzunehmen, dann soll man bitte den Diskurs über die christlichen Wurzeln Europas nicht mehr führen.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.


Erzbischof Jean-Claude Kardinal Hollerich / © Sven Becker (KNA)
Erzbischof Jean-Claude Kardinal Hollerich / © Sven Becker ( KNA )
Quelle:
DR