DOMRADIO.DE: Sie bieten aktuell unter anderem Coachings für Menschen mit Multipler Sklerose an, die sich im Arbeitsalltag zurechtfinden müssen. Vor welchen Herausforderungen stehen diese Menschen?
Agathe Lukassek (Projektreferentin für BESSER und InklusionsGuides sowie Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit des Hildegardis-Vereins): Das ist eins unserer neuen Projekte. Wir haben es gestartet, weil wir merken, dass viele Herausforderungen existieren. MS tritt, wie viele Behinderungen, oft erst im Laufe des Lebens auf – bei MS sogar relativ früh, meist zwischen 20 und 40 Jahren, und es betrifft mehr Frauen als Männer. Die Betroffenen stehen dann mitten im Berufsleben oder am Anfang ihrer Karriere und fragen sich: Kann ich weitermachen wie bisher? Kann ich weiterhin 100 % arbeiten? Wie gehe ich mit Krankheitsschüben um?
Gerade bei Jobwechseln stellt sich oft die Frage: Spreche ich im Bewerbungsprozess oder später am Arbeitsplatz offen über meine Erkrankung oder verschweige ich sie? Und was passiert, wenn ich es irgendwann nicht mehr verbergen kann, weil die Symptome sichtbar werden?
Unser Verein, der Hildegardis-Verein, setzt sich seit vielen Jahren mit Inklusionsprojekten ein. Dies ist unser erstes Vorhaben, das speziell Menschen mit MS unterstützt. Dabei arbeiten wir mit Expertinnen zusammen, die selbst betroffen sind und trotz MS beruflich aktiv bleiben.
DOMRADIO.DE: Der Hildegardis-Verein unterstützt schon seit vielen Jahren Menschen mit Behinderungen, insbesondere Frauen. Hat sich die gesellschaftliche Lage verbessert?
Lukassek: Es tut sich einiges. Es gibt Einzelpersonen oder Unternehmen, die sensibler geworden sind und auf Inklusion achten. Aber es bleibt noch sehr viel zu tun. Der Bundesbehindertenbeauftragte hat zuletzt wieder kritisiert, dass zu wenig umgesetzt wird – gerade im Bereich Arbeit und Behinderung.
Wir merken das auch: Wir bieten keine Fürsorge wie die Caritas, sondern wenden uns an Menschen, die auf dem regulären Arbeitsmarkt bleiben oder dort einsteigen wollen. Häufig schicken diese 100 Bewerbungen raus und bekommen nur Absagen.
Unser Ziel ist es, diese Menschen, überwiegend Frauen, zu stärken und zu fördern. Oft gelingt es, dass sie eine Anstellung finden – das freut uns sehr. Aber strukturell bleibt die Situation in Deutschland schwierig. Hier hat der Bundesbehindertenbeauftragte vollkommen recht: Es gibt noch viel Luft nach oben.
DOMRADIO.DE: Ihr Fokus liegt auf der Betreuung von Frauen. Hat das historische Gründe?
Lukassek: Ja, genau. Der Hildegardis-Verein wurde vor 117 Jahren von katholischen Frauen gegründet. Damals war unser Ziel, Frauen ohne Behinderung beim Studium zu unterstützen. Bis heute vergeben wir zinslose Darlehen, damit Studentinnen ihr Studium abschließen können.
Seit 18 Jahren fördern wir außerdem gezielt Studentinnen mit Behinderungen, weil Mitte der 2000er-Jahre ein großer Bedarf sichtbar wurde. Hochschulen und Universitäten boten damals wenig Unterstützung. Unser erstes Projekt in diesem Bereich war ein Mentoring-Programm für Studentinnen mit Behinderungen.
DOMRADIO.DE: Neben dem Coaching für Menschen mit MS – was bietet der Hildegardis-Verein sonst noch an Unterstützung?
Lukassek: Ein weiteres aktuelles Projekt sind die "Inklusionsguides". Unternehmen können sich bewerben, um daran teilzunehmen. Sie bekommen dann für ein Jahr Studentinnen oder Absolventinnen mit Behinderungen zur Seite gestellt. Diese Guides unterstützen das Unternehmen dabei, inklusiver zu werden.
Die Guides selbst werden von uns gecoacht, damit sie in der Lage sind, Workshops und Trainings durchzuführen. Das Projekt läuft gerade wieder an, und Unternehmen sowie interessierte Frauen können sich bis Anfang des nächsten Jahres bewerben.
Das Interview führte Dagmar Peters.