Hilfsorganisation kritisiert langsame EU-Flüchtlingspolitik

Vor dem Scherbenhaufen

"Borderline Europe" bereitet auf Lesbos ein Winterquartier für Flüchtlinge vor. Vorstandsmitglied Bierdel sieht die EU-Flüchtlingspolitik als Scherbenhaufen. Zu lange habe man die Herausforderungen ignoriert, sagt er bei domradio.de.

Ein Einheimischer winkt auf Lesbos Flüchtlinge heran / © Orestis Panagiotou (dpa)
Ein Einheimischer winkt auf Lesbos Flüchtlinge heran / © Orestis Panagiotou ( dpa )

domradio.de: Grenzkontrollen und Stacheldraht - sind das Maßnahmen, die Gift für die europäische Idee sind?

Elias Bierdel (Vorstandsmitglied der Hilfsorganisation "Borderline Europe - Menschenrechte ohne Grenzen", zurzeit auf Lesbos): Selbstverständlich. Wenn sie das hier aus der Perspektive der europäischen Außengrenzen in der Ägäis anschauen, dann ist das ganz schauerlich, was dort passiert. Wie leicht dann all diese wichtigen Errungenschaften der Europäischen Union - Reisefreiheit und der Abbau von Grenzanlagen - wieder infrage gestellt werden. Wenn immer mehr Länder dazu übergehen, ihre Grenzen dicht zu machen, dann können wir uns ausmalen, wie es demnächst hier in Griechenland aussieht. Und das ist kein schönes Bild, das wir da sehen. 

Wie immer, wenn Politik Prozesse ignoriert und dadurch auch versäumt, sie zu steuern, geschehen die Veränderungen ruckweise. Das ist, was wir gerade sehen. Jetzt stehen wir vor der Frage: Wollen wir akzeptieren, dass sich das Gesicht unseres Kontinents verändert? Wollen wir neue Ansätze im Umgang mit unseren Nachbarregionen finden oder kehren wir zurück zu schlechten und letztendlich gescheiterten Ansätzen der Grenzpolitik? Hier an den Außengrenzen der EU sind in den letzten Jahren ja sehr viele Menschen ums Leben gekommen - nicht nur bei Unglücksfällen, sondern auch weil sie zum Teil von europäischen Beamten ins Wasser geworfen worden sind oder Grenzschutzboote einfach über Füchtlingsboote hinweggefahren sind. Das ist nicht zu beschönigen. Wir hoffen, dass es keine Rückkehr zu dieser Art von Gewalt geben wird. 

domradio.de: Können Sie nachvollziehen, dass sich einige Staaten von der Anzahl der Flüchtlinge überfordert fühlen? 

Bierdel: Es ist immer die Frage, ob man Entwicklungen voraussieht und sie gestaltet. Das sehe ich als einen Hauptansatz von Politik. Wenn man aber ignoriert, was sich hier über Jahre hinweg aufgebaut hat - der Konflikt in Syrien zum Beispiel dauert nicht erst seit gestern und zwingt die Menschen dazu, woanders Schutz und Hilfe zu suchen - und sich jeder Solidarität innerhalb Europas verweigert, steht man vor einem Scherbenhaufen. Die pauschale Behauptung, wir seien nicht in der Lage damit umzugehen, lasse ich so nicht gelten. Wir würden besser dastehen, wenn wir rechtzeitig die Herausforderungen angenommen hätten. Jetzt stehen wir vor größeren Aufgaben.   

domradio.de: Wie zeigen sich die Abschottungsmaßnahmen bei Ihnen auf Lesbos?  

Bierdel: Hier fliegt ein Frontex-Hubschrauber herum. Mit dem Hubschrauber wurde noch kein einziges Menschenleben gerettet. Die Menschen sind weiter draußen in Gefahr. Frontex ist bei den Griechen nicht besonders beliebt, weil die Küstenwache sehr viel damit zu tun hat, die Boote an Land zu bringen. Die Europäische Union erweist sich als unfähig, auch nur ein bisschen Ordnung hier hereinzubringen. Zum Beispiel ein paar Beamte zu schicken, die die Griechen bei der Registrierung unterstützen. Das lässt tief blicken. Es behalten offenbar immer noch jene die Oberhand, die der Meinung sind, man solle den Laden dicht halten. Diese Politik der Abschottung ist aber gescheitert. 

domradio.de: Seit Juni sind Sie mit Ihrer Organisation auf Lesbos und bauen unter anderem Winterquartiere. Wie müssen wir uns Ihre Arbeit vorstellen?

Bierdel: Unter den Touristen und lokalen Initiativen sind viele, die helfen. Viele geben zum Beispiel Essen aus. Aber wenn das Wetter schlechter wird, dann wird von dieser Hilfe nicht mehr viel übrig sein. Die Touristen sind dann wieder zuhause, die Semesterferien sind zuende, und damit sind auch die Freiwilligen weg, die hier noch an den Stränden herumlaufen. Wir wissen, dass es im Winter Stürme geben wird und die Temperaturen auf bis zu minus 20 Grad sinken können. Dann befinden sich Menschen, die durchnässt hier ankommen, in unmittelbarer Lebensgefahr. Für die wollen wir etwas mit unserem Projekt "Proti Stassi" tun. Das ist griechisch und heißt "Erste Station". Wir bauen ein Winterquartier in einer ehemaligen Molkerei im Norden von Lesbos. Da können wir einige hundert Menschen wenigstens zunächst einmal aufnehmen. Da können sie sich duschen und eine Toilette benutzen. Wir bauen das mit lokaler Unterstützung, aber auch mit Hilfe aus Deutschland, auf.

 

Das Interview führte Aurelia Rütter.


Quelle:
DR