Die schlimmste Zeit des Sterbens war im April. Damals zeigte das Fernsehen Gefrierlastwagen für die Leichen. Gegenwärtig kehrt das Leben in New York vorsichtig zu einer gewissen Normalität zurück. Der Kampf gegen Covid-19 hat sich stückweise von Intensivstationen und Krankenhäusern auf Reha-Einrichtungen für die Überlebenden verlagert.
Um die Tausenden von Toten der Metropole nicht zu vergessen, hat die Zeitung "thecity.nyc" nun ein Erinnerungsprojekt gestartet. Damit solle "das Leben eines jeden Menschen" gewürdigt werden, sagte Mitarbeiter Terry Parris, einer der Initiatoren. Die Toten sollten nicht untergehen im Nachrichtenzyklus. Die gemeinnützige Zeitung "thecity.nyc" hat damit begonnen, Nachrufe online zu publizieren. Mit Fotos, Links zu den veröffentlichten Todesanzeigen sowie selbst geschriebenen Texten.
Schwarze und Latinos tauchen kaum auf
Für nur etwa fünf Prozent der Verstorbenen seien während des Corona-Ausbruchs Nachrufe und Todesanzeigen in Zeitungen erschienen, sagte Paris dem Evangelischen Pressedienst (epd). Was eindeutig ins Auge falle: Wenig dokumentiert würden Verstorbene aus den am stärksten betroffenen Bevölkerungsschichten: Schwarze, Latinos, ärmere Stadtbewohner. Die höchsten Pro-Kopf-Infektionszahlen gab es in Vierteln mit niedrigen Einkommen.
Ana Ortiz war aus der Dominikanischen Republik eingewandert. Sie starb mit 82. Sie betreute Menschen mit geistiger Behinderung, heißt es im Nachruf auf "thecity.nyc". Freitags sei sie immer mit ihrer Tochter Patricia chinesisch essen gegangen. Mario "Pipi Pobega war 85. Der Koreakriegsveteran, Rentner, Vorarbeiter bei der Stadtreinigung, war nach Angaben seiner Tochter Fran Lodispoto einer, der sich mit "jedem unterhalten hat".
Barry, Carol, Verona, Sean und andere
Verkehrspolizist Mohammed Chowdhury (54) stand eine Woche vor seinem 30. Dienstjubiläum. Barry Kaye (91) und Carol Kaye (87), erfolgreiche Versicherungsvertreter, starben binnen einer Woche. Ihre Ehe sei eine 58-jährige Liebesgeschichte gewesen, heißt es. Verona Fraser (70), ursprünglich aus Guyana, sei wegen ihrer Polio-Erkrankung zeitweilig mit dem elektrischem Fahrrad unterwegs gewesen. Sean Hook (23), "stolzes Mitglied der Dienstleistergewerkschaft", war Baseball-Fan und Hundeliebhaber.
Ed Fuld (85) war als Dreijähriger auf der Flucht vor den Nazis nach New York gekommen, ein "Ehemann und Vater", der gerne getanzt habe. Frantz Vital (33), ursprünglich aus Haiti, hat in einer Arztpraxis gearbeitet. Wenn sie an ihn denke, müsse sie lächeln, sagte seine Kollegin Janna Weiß. Rebecca Yee (48) war Krankenschwester. Ihre Mutter Chiu Lin Yee sei ebenfalls an den Folgen von Covid-19 gestorben.
Präsident redet Leid klein
Mehr als 20 Angestellte und Freiwillige arbeiten an dem Projekt, darunter Journalismusstudentinnen und -studenten der Columbia Universität und der City Universität von New York. Das Projekt werde sich hinziehen, sagte Parris. Bisher seien etwa 1.000 Verstorbene erfasst worden: "Jeder Mensch hat eine Geschichte." Zum Realisieren des Projektes setzt "thecity.nyc" auf Crowdsourcing und fragt nach bei Verbänden, Nachbarschaftsorganisationen und Vereinen. Für Hinterbliebene, die Fotos und Erinnerungen beisteuerten, sei das Dokumentieren oft ein wichtiger Schritt beim Trauern.
Das Erinnern ist politisch. Landesweit gab es Ende Juni in den USA mehr als 124.000 Tote. US-Präsident Donald Trump hat das Ausmaß der Pandemie klein geredet und nur ganz selten über die Toten und das Leid gesprochen. Er spricht über Fortschritte, die man gemacht habe und die Notwendigkeit, die USA wieder zu "öffnen".
Mehr Infizierte, weniger Sterbefälle
Geschichtswissenschaftlern kommt das bekannt vor. Bei der Grippe-Pandemie 1918/19 seien in den USA geschätzt 675.000 Menschen gestorben, erklärte John Barry, Autor des Buches "The Great Influenza". Der damalige Präsident Woodrow Wilson habe "nicht ein einziges Mal" über die Toten gesprochen. Er habe nicht von den Anstrengungen im Ersten Weltkrieg ablenken wollen.
Ende Juni gab es in den USA mehr als 2,5 Millionen bestätigte Infektionen mit dem Coronavirus. Pro Tag wurden mehr als 40.000 Neuinfektionen gemeldet, mehr als beim vermeintlichen Höhepunkt in April. Die Zahl der Sterbefälle geht allerdings zurück. Mediziner haben dazugelernt. Es erkranken mehr junge Menschen, die anscheinend eine bessere Chance gegen das Virus haben.