DOMRADIO.DE: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie nach antisemitischen Übergriffen oder den Terroranschlägen vom 7. Oktober 2023 das durchaus solidarisch gemeinte "Nie wieder!" aus der deutschen Politik und Gesellschaft hören?
Prof. Dr. Michael Wolffsohn (Deutscher Historiker und Publizist): Die Bekundungen sind sehr sympathisch, aber wenig wirksam. Deswegen muss man sich überlegen, was man dagegen tun kann. Aber es ist wie in der Medizin: Erst die Diagnose, dann die Therapie. Man muss zunächst analysieren und das habe ich in diesem Buch versucht.
DOMRADIO.DE: Der Titel Ihres Buches lautet: "Nie wieder? Schon wieder!" Müsste er nicht heißen: "Immer noch"? Denn der Antisemitismus war aus Deutschland nie verschwunden.
Wolffsohn: Wir haben einen alten und einen neuen Antisemitismus, so lautet auch der Untertitel des Buches. Der alte ist der rechtsextremistische Antisemitismus, der millionenfach tödlich war, der bis heute weiter existiert. Es gibt den linksextremistischen Antisemitismus, der ebenfalls seit dem späten 19. Jahrhundert Tradition hat. Und es gibt den in Europa und Deutschland den relativ neuen, islamischen Antisemitismus, der in Bezug auf die Straftaten derzeit der gefährlichste ist. Das heißt, wir haben zwei alte und eine neue Form des Antisemitismus.
DOMRADIO.DE: Sie schreiben in ihrem Buch die These: "Wie eh und je ist der Antisemitismus die oder zumindest eine Eintrittskarte in die europäische Gesellschaft." Was meinen Sie damit?
Wolffsohn: Es ist eine neue Eintrittskarte in europäische Gesellschaft: Der Gedanke ist angelehnt an Heinrich Heine, der im 19. Jahrhundert befand, dass das "Entréebillett" in die Kultur, wie er es nannte, der Übertritt zu Christentum war. Heute ist es der Antisemitismus aufgrund einer scheinkulturellen Vorherrschaft der antisemitischen, antijüdischen, antizionistischen und antiisraelischen Kräfte in der akademischen und kulturevent-bezogenen Gesellschaft. Wer also bei denen, die zu Kultur und Academia gehören dabei sein will, löst diese Eintrittskarte und die heißt Antisemitismus.
DOMRADIO.DE: Was meinen Sie damit? Dass Antisemitismus dort zum guten Ton gehört?
Wolffsohn: Das spricht man so offen nicht aus, das ist subtiler. Das wird akademisch mit wohlklingenden Vokabeln wie "Kolonialismus" und "Imperialismus" vorgetragen. Das ist schick, nicht nur an deutschen Universitäten, sondern auch an amerikanischen Elite-Unis.
Aber das ist nicht die Hauptgefahr für Juden und für Israel, dieses akademische Gefasel ist nur die Rechtfertigung für liquidatorischen Judenhass, wie seit dem 7. Oktober 2023 jeder sichtbar erkennen kann.
DOMRADIO.DE: Sie stellen in Ihrem Buch die Frage, ob Juden in Deutschland eine Zukunft haben und Ihre Antwort lautet: "Über kurz oder lang wird es, nach dem fiktiven Exodus der Bibel, einen zweiten Exodus nach Zion, also Israel, geben." Ihre Eltern und Großeltern überlebten den Holocaust, weil sie bereits 1939 Deutschland verließen, als andere noch hofften, dass alles irgendwie gut werden würde. Wann ist für Sie persönlich die rote Linie erreicht, an der Sie Deutschland verlassen würden?
Wolffsohn: Ich bin fast 77 Jahre alt und werde meinen Lebensabend in Deutschland verbringen. Aber als Historiker versuche ich aus Vergangenem Rückschlüsse auf Gegenwart und Zukunft zu ziehen.
Und die Zeichen sind völlig klar: Verbale und körperliche Gewalt gegen Juden haben in den letzten Jahren – und noch mal mehr seit dem 7. Oktober – dramatisch zugenommen und die meisten Straftaten kommen aus dem migrantischen Milieu, religiös-muslimisch motiviert und legitimiert von nichtmuslimischen Akademikereliten.
Die muslimische Welt als Teil des globalen Südens, wie das heute heißt, ist in der linksliberalen Welt heute durchaus populär. Da werden allerlei Legenden geschürt, um den Antijudaismus und den Antiisraelismus zu schüren. Das macht sich im Alltag in Deutschland, Europa aber auch den USA bemerkbar.
DOMRADIO.DE: Am 7. Oktober 2023 ermordeten Hamas-Terroristen in Israel über tausend Zivilisten. Für die Menschen in Israel aber auch für Jüdinnen und Juden weltweit markiert das einen tiefen Einschnitt, denn Israel war für sie immer eine Lebensversicherung, ein Ort, an den sie zurückkehren konnten. Was bedeutet es, dass dieser Hafen offenbar auch nicht mehr so sicher ist?
Wolffsohn: Der Zionismus – also das Verlangen der Gründung und die Rechtfertigung des jüdischen Staates – war immer auf die innenpolitische Sicherheit ausgerichtet: Eine nicht mehr vorhandene Abhängigkeit der jüdischen Minderheit von der nichtjüdischen Mehrheit, die es seit 2000 Jahren gegeben hat. Das ist der fundamentale Unterschied, die die Gründung des jüdischen Staates macht.
Vor und nach 1948 und bis heute gab und gibt es militärische Konflikte, die sich gegen die Existenz des jüdischen Staates richten, einer dieser Großangriffe war der 7. Oktober 2023. Aber das ist nichts Neues. Nach wie vor ist Israel der innenpolitische Schutzhafen, den Juden weltweit haben, wenn sie Sicherheit vor Unterdrückung suchen. Und dieses bisschen Sicherheit sollte die Weltgemeinschaft den Juden endlich einräumen. 2000 Jahre Verfolgung sind genug.
DOMRADIO.DE: Als Ursache für den Antisemitismus beschreiben Sie ein "geschichtspolitisches und -pädagogisches Versagen". Was hätte man denn Ihrer Meinung nach anders machen sollen? Zum Beispiel im Schulunterricht?
Wolffsohn: Man kann von Bildung – obwohl ich selbst lehre und mein Leben lang lerne – nicht erwarten, dass sie den Menschen besser macht. Das ist eine naive Illusion, wenn Sie daran denken, dass die deutschen Hochschullehrer unmittelbar nach den Wahlen von 1933 mit fliegenden Fahnen zu Hitler übergelaufen sind.
Bildung im Sinne von "Ausbildung" ist kein Garantieschein für Menschlichkeit. Wir sprechen hier von Herzensbildung und die wird nicht an Schulen und Universitäten gelehrt, zumindest nicht im Sinne eines Schulfachs, sondern in den Familien und in der Gesellschaft.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.
Information der Redaktion: Das Buch von Prof. Michael Wolffsohn: "Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitismus" ist im Herder Verlag am 27. Januar 2024 erschienen.