KNA: Herr Menrath, überraschen Sie die jüngsten Funde von Massengräbern an ehemaligen Umerziehungsheimen für Indigene in Kanada - oder musste man damit rechnen nach allem, was man über diese Schulen weiß?
Dr. Manuel Menrath (Historiker und Autor aus Luzern): Die traurigen Funde in Kanada haben mich eigentlich nicht überrascht - auch wenn ich ein so großes Ausmaß nicht erwartet hätte. In den 94 Handlungsempfehlungen, die die kanadische Wahrheits- und Versöhnungskommission 2015 publizierte, wurde bereits in den Punkten 71 bis 76 darauf verwiesen. Zudem berichteten mir bei den Recherchen für mein Buch "Unter dem Nordlicht" immer wieder Indigene aus dem Norden Ontarios, sie wüssten nicht, wo ihre Verwandte geblieben seien, die in teils Hunderte Kilometer vom Reservat entfernte "Residential Schools" gebracht worden waren. Man hat die Leichen toter Kinder in der Regel nicht ins Reservatsdorf zurück überführt, sondern sie auf dem Schulgelände bestattet.
KNA: Das System der "Residential Schools" gab es nicht nur in Kanada, sondern auch in den benachbarten USA. Auch hier betrieb die katholische Kirche viele Einrichtungen. Wissen Sie, ob sich die US-Bischöfe schon einmal mit dem Thema auseinandergesetzt haben?
Menrath: Sagen wir so: Eine offizielle Entschuldigung der katholischen US-Bischöfe ist mir nicht bekannt. Ich weiß aber von Kirchenvertretern dort, die eine solche fordern.
KNA: Zurück nach Kanada - was wäre angesichts der jüngsten Leichenfunde nun zu tun?
Menrath: Es braucht eine vollumfängliche Aufarbeitung - und die damit verbundene Umsetzung der 94 Handlungsempfehlungen. Die aktuellen schrecklichen Funde sind nicht einfach historisch. Wohl fast jede indigene Familie in Kanada hat ein Kind in einer solchen Zwangsumerziehungsanstalt verloren, von dem sie nicht weiß, wo es bestattet liegt. Heute leben noch etwa 70.000 sogenannte Survivors, also Indigene, die als Kinder in den "Residential Schools" waren. Sie sind nun alt und möchten wissen, was mit ihren Geschwistern oder Cousins und Cousinen geschehen ist. Aber es reicht nicht, nur die Geschichte dieser Schulen abschließend aufzuarbeiten.
KNA: Sondern?
Menrath: Es müssen zudem die generationsübergreifenden Traumata genauer erforscht werden. Auch die Wende in den 1960er Jahren spielt eine wichtige Rolle. Denn nach Schließung der meisten "Residential Schools" gaben staatliche Behörden Kinder von indigenen Eltern oft zur Adoption frei oder brachten sie in Pflegefamilien unter; mit dem Argument, dass die indianischen Eltern in gewissen Fällen nicht fähig seien, ihre Kinder zu erziehen. Problematisch daran ist, dass diese Eltern erst durch die Assimilierungsmaßnahmen in den Internaten ihre Identität verloren, rasch drogen- oder alkoholabhängig wurden und nicht mehr in der Lage waren, die eigenen Kinder zu erziehen. Noch heute ist ein Großteil indigener Kinder in Kanada in Pflegefamilien untergebracht, meist jedoch bei Verwandten.
KNA: Was macht das alles mit den indigenen Einwohnern Kanadas?
Menrath: Derzeit brennen katholische Kirchen in Reservaten, oder es wird zu Brandstiftung aufgerufen, weil sich die Menschen, besonders indigene Katholiken, von Rom im Stich gelassen fühlen. Eine Entschuldigung des Papstes mag zwar aus kirchenpolitischer Sicht nicht einfach zu legitimieren sein; aber für das indigene Verständnis wäre dieser Schritt enorm wichtig. Denn nach Auffassung der Indigenen muss bei einer Verletzung das gesellschaftliche Gleichgewicht wiederhergestellt werden.
KNA: Können Sie das näher schildern?
Menrath: Die indigene Gesellschaft lässt sich mit einem Kreis vergleichen. Es gibt keine klaren Hierarchien. Jeder muss dem anderen auf Augenhöhe begegnen können. Durch die Internate wurde der Kreis in vielerlei Hinsicht zerbrochen. Doch viele Geistliche, die Kinder missbrauchten, sind nicht mehr am Leben. Daher ist für die Indigenen eine Entschuldigung des Papsts unerlässlich. Erst dadurch kann der Kreis wieder in ein Gleichgewicht kommen und Heilung beginnen. Diese Sichtweise ist aus westlicher Prägung vielleicht nicht einfach nachzuvollziehen. Aber meines Erachtens wäre es - nachdem man Jahrzehnte lang die eigenen kulturellen Maßstäbe auf die Indigenen übertragen hat und ihnen sagte, was sie zu tun haben - nun an der Zeit, ihnen ausführlich zuzuhören und einen Dialog auf Augenhöhe zu suchen.
Das Interview führte Joachim Heinz.