DOMRADIO.DE: Sie sehen in der Justizreform eine reale Gefahr für die Demokratie in Israel. Inwiefern?
Prof. Michael Brenner (Historiker an der Ludwig-Maximilians-Universität München): Ich sehe durchaus eine reale Gefahr, wie sehr viele Israelis, nach Umfragen sogar die Mehrheit. Diese Justizreform würde die grundsätzliche Gewaltenteilung in Israel sehr stark in Frage stellen und der Regierung, also der Exekutive, und dem Parlament, der Legislative praktisch die Macht über den Justizbereich geben. Das ist sehr gefährlich.
DOMRADIO.DE: Am vergangenen Donnerstag hat Benjamin Netanjahu gegenüber Olaf Scholz und aktuell gegenüber US-Präsident Joe Biden versichert, dass Israel eine starke und lebendige Demokratie ist und auch bleiben werde. Wie glaubwürdig sind diese Beruhigungsversuche?
Brenner: Netanjahu ist natürlich als Premierminister derjenige, der letztlich für diese Justizreform verantwortlich ist. Und natürlich versucht er seine Partner im Ausland wie auch in Israel zu beschwichtigen. Letztlich weiß man natürlich gerade in Israel, dass es auch für ihn bei dieser Justizreform darum geht, seinen eigenen Gerichtsprozess abzuwenden.
DOMRADIO.DE: Korruptionsvorwürfe gegen ihn stehen im Raum, und auch diese Reform ist umstritten. Dabei ist es eine sehr kleine rechtsreligiöse Minderheit in der Regierung, die diese Reform vorantreibt. Warum diese Überstürzung der Regierung? Was glauben Sie, will die Regierung damit bezwecken?
Brenner: Ich denke, dass das Land sehr tief gespalten ist. Das zeigen auch die Wahlen. Es gab ja nun im Abstand von wenigen Monaten in den letzten Jahren immer wieder Neuwahlen, weil es keine stabile Regierungsmehrheit gab. Diese Regierung will ihre jetzige Mehrheit, solange sie eben noch besteht, ausnutzen, um gravierende Veränderungen durchzuführen. Was einer der Gründe dafür ist, dass es die bisher rechteste und religiöseste Regierung in Israel ist.
Auf der anderen Seite: Das oberste Gericht und überhaupt das Justizwesen hat in Israel immer den säkularen Staat und die demokratischen Werte verteidigt. Hier stehen also tatsächlich auch unterschiedliche Werte auf dem Spiel. Und die jetzige Regierung will dies möglichst schnell zu ihren Gunsten verändern. Und wie gesagt, Netanjahu hat seine persönlichen Interessen zudem.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle würden Sie sagen, spielt aus Ihrer Sicht der religiöse Fundamentalismus bei diesen Entwicklungen?
Brenner: Leider eine sehr große Rolle. Es sind nun einige Parteien in der Regierung, die am Ende wirklich einen religiösen Fundamentalismus verkörpern, dem sehr viele Israelis kritisch gegenüberstehen. Sicherlich die Mehrheit, dazu gehören nicht nur linke, sondern auch rechts der Mitte stehende Israelis, die befürchten, dass Israel ein Staat wird, in dem sich fundamentalistische religiöse Werte in bestimmten Bereichen durchsetzen.
Wir dürfen nicht vergessen, Israel ist eine unglaublich bunte, multikulturelle und auch im religiösen Bereich sehr gemischte Gesellschaft. Das bringt natürlich viele Probleme mit sich. Aber bisher war es immer so, dass zwar die Religion eine Rolle in der Gesellschaft spielte, aber der Staat als solcher doch vorwiegend ein säkularer Staat war und es moderate religiöse Werte waren, die hier sich durchsetzen. Das kann sich ändern, wenn einige dieser Prinzipien jetzt durchgesetzt werden.
Das Grundproblem Israels ist, dass es ein Staat ohne Verfassung ist. Schon von Anfang an 1948, als der Staat gegründet wurde, ist es nicht gelungen, eine Verfassung zu schaffen. Unter anderem auch deswegen, weil sich säkulare und religiöse Elemente damals nicht einigen konnten, die religiösen waren damals noch eine viel kleinere Minderheit.
DOMRADIO.DE: Steht Israel also vor einem inneren Bruch, der so noch nie dagewesen ist?
Brenner: Ich glaube, man kann das sagen. Diese Situation war so noch nie dagewesen. Sie war nie so ernst. Man muss nur auf den israelischen Staatspräsidenten hören, Jitzchak Herzog, ein sehr besonnener Politiker der Mitte. Das ist ein bisschen schade und traurig, denn 75 Jahre Israel wären ja an und für sich ein Grund zum Feiern. Israel hat in dieser Zeit vieles erreicht, wenn man nur an die Integration von Einwanderern aus über 100 Ländern denkt. Wenn man daran denkt, dass dieser Staat als ein sehr armer Staat gestartet ist, sich nun zurecht Start up-Nation nennt. Wenn man daran denkt, dass das Land auch kulturell und gesellschaftlich so viel zu bieten hat.
Das alles wird überschattet von zwei Dingen. Zum einen dem weiterhin ungelösten Problemen der Palästinenser, die natürlich auch ihre Ansprüche auf einen eigenen Staat haben und zum Zweiten im Moment die innere Zerrissenheit des Staates.
Das Interview führte Elena Hong.