In Sonntagsreden, in der Auseinandersetzung mit islamistischem Terror und russischer Expansion werden sie gern beschworen: die "europäischen Werte". Doch der Historiker Heinrich August Winkler spricht lieber von "westlichen Werten". Denn schließlich umfasst der Westen mit den USA auch außereuropäische Gebiete. Und umgekehrt definiert sich der östliche Teil Europas mit Russland an der Spitze in Vielem in Abgrenzung zu westlichen Werten.
Wie wohl kein anderer deutscher Historiker hat Winkler analysiert, was die westliche Wertegemeinschaft ausmacht und wie Deutschland nach vielen Umwegen seinen Weg in diese Wertegemeinschaft gefunden hat. Am Mittwoch wurde der 77-Jährige dafür dem mit 20.000 Euro dotierten Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Insbesondere ehrt die Stadt Leipzig damit zu Beginn der Buchmesse Winklers vierbändiges Werk "Geschichte des Westens". Es umfasst die Zeit von der Antike bis ins 21. Jahrhundert.
Akribischer Forscher
Winkler ist einer der gefragtesten Historiker der Gegenwart. Geboren 1938 im ostpreußischen Königsberg, wuchs er in Baden-Württemberg auf. Als Historiker lehrte er in Berlin und Freiburg; zuletzt hatte er bis 2007 wieder einen Lehrstuhl in Berlin inne. Mit ungeheurer Akribie forschte er insbesondere zur Geschichte der Weimarer Republik und zum "deutschen Sonderweg" im 19. und 20. Jahrhundert.
Seit den 60er Jahren Mitglied der SPD, wird er auch von der Union hoch geschätzt. So hielt er am 8. Mai 2015 im Bundestag die Gedenkrede anlässlich des 70. Jahrestags des Kriegsendes.
Wert der christlichen Kirche für westliches Denken
In der zwischen 2009 und 2015 erschienenen "Geschichte des Westens" macht Winkler deutlich, dass er den Beitrag der christlichen Kirche zur Herausprägung des westlichen Denkens für weithin unterschätzt hält. Denn es war die mittelalterliche westliche Kirche mit ihrem Zentrum Rom, in der sich erste Formen einer Gewaltenteilung zwischen weltlicher und geistlicher Macht, Kaiser und Papst sowie zwischen fürstlicher und ständischer Gewalt ausbildeten. Jesu Wort "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist", stehen für Winkler an der Wiege des Westens.
Nur hier konnten sich nach Darstellung des Historikers die Emanzipationsprozesse der Renaissance und des Humanismus, der Reformation und der Aufklärung herausbilden. Im Bereich der Ostkirche, in Byzanz und später Moskau, herrschte dagegen eine Unterordnung der geistlichen unter die weltliche Macht. Dem orthodox geprägten Osten blieben Freiheitstradition, Individualismus und Pluralismus fremd - was sich bis heute in einer schwachen russischen Zivilgesellschaft und der engen Verbindung von orthodoxer Kirche und Präsident Wladimir Putin widerspiegelt.
Westliche Werte: Gefährdetes Korrektiv
Im Westen dagegen entwickelte sich aus der mittelalterlichen Gewaltenteilung die Trennung von gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt. Erstmals festgeschrieben in der amerikanischen Revolution von 1776, wanderten die Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, des Rechtsstaats, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie nach Frankreich, wo die Französische Nationalversammlung im August 1789 die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte beschloss.
Winkler ist in seiner Analyse keineswegs blauäugig. Es gab schon immer ein Spannungsverhältnis zwischen westlichen Werten und konkreter Politik: Schon die Verfasser der US-Menschenrechtserklärung waren Sklavenhalter. Frauen- und Arbeiterrechte mussten hart erkämpft werden. Der Irak-Krieg und das US-Gefängnis von Guantanamo zeigen, dass westliche Werte auch heute gefährdet sind, zugleich aber als Korrektiv dienen.
"Es gibt keine menschenrechtsunfähigen Gesellschaften"
Im Streit darüber, ob diese Werte auch in anderen Kulturen ihren Platz haben, bezieht der Historiker eindeutig Stellung: "Es gibt keine menschenrechtsunfähigen Gesellschaften", sagt er. "Gäbe der Westen die Idee der Universalität der Menschenrechte auf, er würde sich selbst aufgeben." Winkler verweist auf die Charta 08 von 5.000 chinesischen Bürgerrechtlern um den Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo. "Das ist ein Dokument, das gleichrangig neben den amerikanischen und französischen Menschenrechtserklärungen steht."