Aus Sicht des Historikers Michael Wolffsohn macht sich Kirche als Institution allmählich überflüssig – und begeht damit die "größte Dummheit"
"Sie schafft sich selbst ab, denn seit Jahrzehnten beschäftigt sie sich eher selten mit dem Thema Gott-Mensch", schreibt Wolffsohn in einem Beitrag für die "Neue Zürcher Zeitung" (Samstag). Stattdessen befassten sich die Kirchen mehr mit Sexualtheologie, Zölibat, Genderfragen, Sozialethik sowie – besonders die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) – mit Politik.
Kirche verzichte auf ihr "Alleinstellungsmerkmal"
"Mehr als andere betätigt sich die EKD als NGO, als austauschbarer Verband in der Verbandsdemokratie", so der deutsch-jüdische Publizist. Als eine von vielen Nichtregierungsorganisationen verzichte die Kirche auf ihr "Alleinstellungsmerkmal Gottesbotschaft". "Die Kirche macht sich selbst überflüssig", schreibt Wolffsohn.
Zulauf haben Kirche und Diasporajudentum nach seinen Worten nur dort, wo ihr Personal überzeugend glaubt und auch im religiösen Sinne sauber ist. "Wie kann und soll die einzelne Person die religiösen Regeln ihrer Institution einhalten, wenn deren Personal die eigenen Regeln selbst nicht einhält, Wasser predigt und Wein trinkt?"
Zwar gebe es auch glaubwürdige Kirchenleute. Einstweilen sehe es jedoch so aus, "dass Gottes Diener sich weiter an ihm versündigen und sich langfristig selbst überflüssig machen".
In säkularisierter Moderne sei noch Spiritualität
Gleichwohl sieht Wolffsohn auch in der säkularisierten Moderne noch Spiritualität. So gebe es Gottesgläubige oder Menschen, die nicht an den biblisch, kirchlich oder rabbinisch beschriebenen Gott glauben. "Sie glauben eher an eine den Kosmos durchdringende oder beherrschende, zumindest spirituelle Urkraft. Ihr Gott ist nicht tot, er lebt, und er ist anders."
Es sei nicht mehr der Gott der Kirche und der Synagoge. "Ob gut oder schlecht, die islamische Welt ist von dieser Entwicklung Lichtjahre entfernt. Der Islam-Turm wankt noch nicht."