KNA: Herr Professor Schilling, wie kommen Sie dazu, ein 480-Seiten-Werk über "Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa" zu schreiben?
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Heinz Schilling (emeritierter Professor für Geschichte der frühen Neuzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin): Mein Interesse an diesem Thema hat einen ganz persönlichen Hintergrund. Ich bin evangelisch und im katholisch geprägten Köln aufgewachsen. Dort war ich in einem katholischen Kindergarten und dann in der Schule in zeitweise konfessionell getrennten und auch gemeinsamen Klassen.
So habe ich das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten in vielerlei Hinsicht kennengelernt. Das hat mich dann motiviert, mich im Studium mit konfessionsgeschichtlichen Zusammenhängen vor allem in der frühen Neuzeit von 1400 bis 1800 zu befassen.
KNA: Warum gerade diese Epoche?
Schilling: Diese Jahrhunderte sind die Entstehungszeit unserer modernen, pluralen Gesellschaft. Um diese Entwicklung zu verstehen, muss man berücksichtigen, dass Religion und Kirchen einen zentralen Anteil daran hatten, nicht nur als Hemmschuh, wie es häufig dargestellt wird, sondern auch als Motor der Veränderungen.
KNA: Was widerspricht dem Vorurteil, dass Christentum und modernes Europa einen Gegensatz darstellen?
Schilling: Es ist einfach falsch. Infolge der Reformation ergab sich ein mächtiger Schub der Differenzierung und damit zur langfristigen Pluralisierung Europas. Allerdings auch und zeitbedingt unausweichlich eine Fundamentalfeindschaft zwischen den Konfessionen.
Für die daraus resultierenden Kriege und unmenschlichen Gewaltausbrüche war auch das Christentum verantwortlich. Die Kirchen haben, indem sie nach diesen äußerst blutigen Konfessionskriegen ihre Streitigkeiten untereinander beigelegt haben, zu mehr Toleranz in der Gesellschaft entscheidend beigetragen. Daraus ist das vielfältige Europa von heute entstanden.
KNA: Welchen Beitrag zur Entstehung der modernen Welt, speziell zu mehr Toleranz haben Katholiken und Protestanten jeweils geleistet?
Schilling: Es war unterschiedlich. Bei Katholiken gab es eine verzögerte Modernität, bei Protestanten einen leichteren Übergang zur Modernität. Dies zeige ich an einem Vergleich des Reformators Martin Luther, der für den Protestantismus im Übergang zur Moderne die entscheidende Leitfigur war, mit Papst Pius IX., der eine lange nachwirkende antimodernistische Haltung repräsentierte.
KNA: Welche Lehren lassen sich aus den religiös motivierten Konflikten der frühen Neuzeit für die zunehmende Unversöhnlichkeit der Weltanschauungen heute ziehen?
Schilling: Die Kirchen können durch ihre Bereitschaft zur Verständigung untereinander ein Vorbild für die ganze Gesellschaft sein. Gerade die Christen haben gelernt, bei bleibenden Unterschieden oder sogar Gegensätzen Wege zu einem Zusammenleben zu finden. Das Christentum hat die weltanschauliche Totalkonfrontation im 16. und frühen 17. Jahrhundert und den damit verbundenen gegenseitigen Vernichtungswillen überwunden. Damit ist es den Spaltungstendenzen in der heutigen Gesellschaft weit voraus.
KNA: Zur gesellschaftlichen Vielfalt von heute tragen auch muslimische Zuwanderer bei, denen oft Fundamentalismus vorgeworfen wird. Wie kann deren Integration gelingen?
Schilling: Auch das Christentum hat eine Phase des Fundamentalismus durchlebt und keinen Grund, auf solche Probleme herabzublicken. Auch von Christen gab es religiös motivierte Mordanschläge, denen etwa der französische König Heinrich IV. 1610 zum Opfer fiel. Überdies waren die religiösen Konflikte, die in den 30-jährigen Krieg mündeten, von einem fundamentalistischen Verständnis von Religion und Politik geprägt.
Dann hat es das Christentum auf theologischem Wege und auf der Basis rechtlicher und politischer Übereinkünfte geschafft, diesen Fundamentalismus zu überwinden. Wenn dies damals gelungen ist, sollte es auch dem Islam von heute möglich sein - nicht aufgrund von außen auferlegter Forderungen, sondern von innen -, durch religiöse und theologische Arbeit selbst Fundamentalismus zurückzudrängen.
KNA: Sie gehen in Ihrem Buch auch auf den "Synodalen Weg" der katholischen Kirche in Deutschland ein und bezeichnen ihn als "historische Aufgabe". Was raten Sie mit Blick auf diesen Reformdialog?
Schilling: Die Protestanten sollten diesen Weg mit Sympathie begleiten ohne Herablassung, dass sie die damit verbundenen Reformforderungen schon seit Generationen umgesetzt haben. Ihre Synoden haben gezeigt, dass kirchliche Parlamente nicht zum Niedergang der Religion führen. Im Gegenteil kann man aus diesen Strukturen Kraft gewinnen.
Im Unterschied zu den evangelischen Kirchen ist die katholische allerdings eine Weltkirche. Was in Deutschland vordringliche Fragen sind, ist schon in anderen Regionen Europas gar nicht so. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die geschichtliche Entwicklung in Richtung Partizipation, Differenzierung und Pluralität geht. Deshalb sollte die katholische Kirche auch regional unterschiedliche Reformen ermöglichen. Was sich daraus entwickelt, wird sich in den nächsten Generationen zeigen.
Das Interview führte Gregor Krumpholz.