Historikerin analysiert Stolpersteine im jüdisch-christlichen Dialog

"Strukturell asymmetrische Beziehung"

Im jüdisch-christlichen Dialog wurde viel erreicht, sagt die israelische Historikerin Karma Ben-Johanan. Ihr Buch "Yacob's younger brother" befasst sich mit den jüdisch-christlichen Beziehungen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil.

Autor/in:
Andrea Krogmann
Verlegung von Stolpersteinen / © Harald Oppitz (KNA)
Verlegung von Stolpersteinen / © Harald Oppitz ( KNA )

KNA: Frau Ben-Johanan, wie steht es um den jüdisch-christlichen Dialog? 

Karma Ben-Johanan (Historikerin): Einerseits können die Errungenschaften in den letzten sechs Jahrzehnten nicht genug betont werden. Die Konzilserklärung "Nostra Aetate" von 1965 hat ein neues Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum eröffnet. 

Die Kirche hat sich einem tiefgreifenden Prozess sowohl der inneren Reflexion über die Lehre als auch über nicht-lehrmäßige Fragen des allgemeinen Umgangs mit dem Judentum gestellt. Dazu kommt eine beharrliche Kontaktaufnahme mit Juden und eine Art neuer Horizont der jüdisch-christlichen Gelehrsamkeit. 

Karma Ben-Johanan, Historikerin und Autorin, am 6. November 2024 in Jerusalem (Israel). / © Andrea Krogmann (KNA)
Karma Ben-Johanan, Historikerin und Autorin, am 6. November 2024 in Jerusalem (Israel). / © Andrea Krogmann ( KNA )

Die Reaktionen der jüdischen Gemeinden waren komplexer und manchmal ambivalent. Während liberale jüdische Gemeinden dem jüdisch-christlichen Dialog offener gegenüberstanden, waren orthodoxe und ultra-orthodoxe Gemeinden eher misstrauisch, manchmal geradezu feindlich eingestellt. 

Karma Ben-Johanan

"Die Polarisierung, die wir weltweit sehen, gibt es auch innerhalb der jüdischen Gemeinde."

Gleichzeitig sehen wir in den vergangenen 20 Jahren neben dem reaktionären, manchmal antichristlichen Ansatz viel Engagement und eine wachsende Offenheit in bestimmten orthodoxen jüdischen Kreisen. Die Polarisierung, die wir weltweit sehen, gibt es auch innerhalb der jüdischen Gemeinde. Sie prägt die Sicht auf den jüdisch-christlichen Dialog. 

KNA: Der Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 hat die jüdische Welt verändert. Wie hat sich das auf den Dialog ausgewirkt

Ben-Johanan: Es war ein Erdbeben für jüdische Gemeinden auf der ganzen Welt und ist immer noch schwer zu erfassen. Die schwierigste Erfahrung ist das Zurückgeworfensein in die jüdische Geschichte, das sowohl die Errungenschaften des Zionismus als auch des Liberalismus und der Gleichberechtigung berührt. 

Der jüdisch-christliche Dialog hat stark in die Schaffung einer liberalen Demokratie investiert, und umgekehrt. In dieser politischen Atmosphäre haben radikale Prozesse wie eine Demokratisierung der Kirche und ein neues Verständnis der Beziehungen zwischen Juden und Christen stattgefunden. 

Karma Ben-Johanan

"Der liberale Status quo gilt nicht mehr."

Jetzt wurde klar, dass unser Traum von einer reparierten Welt ohne Vorherrschaft der alten Feindschaften nicht mehr existiert. Der liberale Status quo gilt nicht mehr. Da der Dialog auch für die Kirche in den letzten zehn Jahren weniger Priorität hatte, ist es für Katholiken schwieriger geworden, die Komplexität und die Nuancen der jüdischen Erfahrung zu erfassen. 

Aber Israel kann man nicht ohne diese Komplexitäten und Widersprüchlichkeiten verstehen. Wenn der Dialog relevant sein soll, muss er das berücksichtigen; andernfalls wird er ineffektiv. 

KNA: Wie steht es um den nicht-institutionellen Dialog? 

Zehntausende Teilnehmer des fünftägigen Protestmarsches für die Geiseln in der Gewalt der islamistischen Terrororganisation Hamas erreichen am 18. November 2023 Jerusalem (Israel). Die Demonstranten halten Schilder mit Bildern und Namen der Entführten in die Höhe. / © Andrea Krogmann (KNA)
Zehntausende Teilnehmer des fünftägigen Protestmarsches für die Geiseln in der Gewalt der islamistischen Terrororganisation Hamas erreichen am 18. November 2023 Jerusalem (Israel). Die Demonstranten halten Schilder mit Bildern und Namen der Entführten in die Höhe. / © Andrea Krogmann ( KNA )

Ben-Johanan: Vieles geschieht unter der Oberfläche. Ein Problem, das wir beim jüdisch-christlichen Dialog in Israel sehen: Die Kirche ist nicht interessiert am Dialog mit säkularen Juden, weil sie das Judentum stärker als Religion sieht. Säkulare Juden sind aber sehr offen und interessiert am Christentum. 

 Die Orthodoxie, die die Kirche als eine Art authentisches Judentum erreichen will, ist oft sehr illiberal oder antiliberal und sieht im Dialog mit Christen ein Fenster für missionarische Aktivitäten - nicht wissend, dass die Kirche sich nicht in institutionellen, missionarischen Aktivitäten engagiert. 

KNA: Juden stellen die Mehrheit in Israel, anders in Europa. Macht es für den Dialog einen Unterschied, wo er geführt wird? 

Ben-Johanan: Die Beziehung zwischen Juden und Christen ist strukturell asymmetrisch und wird es immer sein. Die Gründe, aus denen sich Juden auf einen Dialog einlassen, werden immer andere sein als die der Christen. Und die Bedrohungen, denen Juden durch den Dialog ausgesetzt sein werden, werden immer andere sein. 

Als globale Minderheit ist es für Juden oft notwendig, ihre jüdische Identität zu wahren und sich nicht in die christliche Einladung aufzulösen - vor allem heute, wo die Kirche zu ihren eigenen jüdischen Wurzeln zurückgekehrt ist und es nicht länger ein Widerspruch ist, Jude und Christ zu sein. 

Blumen neben frisch verlegten Stolpersteinen am 19. Oktober 2022 in Köln / © Harald Oppitz (KNA)
Blumen neben frisch verlegten Stolpersteinen am 19. Oktober 2022 in Köln / © Harald Oppitz ( KNA )

 Für Juden ist es wichtig, die Grenzen einzuhalten, weil die Bedrohung durch diese hybride, mehrdeutige Identität sehr stark ist. Daher sind Juden tendenziell misstrauischer. In Israel vollziehen Juden in gewisser Weise immer noch den Übergang von der Minderheit, die davon träumt, Mehrheit zu sein. 

KNA: Was bedeutet das konkret für den Dialog? 

Ben-Johanan: Dieser Traum beinhaltet alle möglichen Fantasien, die sich sehr von der tatsächlichen Erfahrung als Mehrheit unterscheidet. Im religiösen Diskurs stellen sie sich immer noch als Minderheit vor und nehmen Christen als Bedrohung wahr. Aber es ist die christliche Gemeinschaft, die die Erfahrung macht, dass sie als Minderheit in Israel verletzlich ist. 

Aus westeuropäischer Sicht akzeptieren die Juden in Europa die "Bedingungen" des Dialogs, die von der Mehrheit festgelegt werden, was es leichter macht. Man kann die religiöse Komponente herauslösen aus dem politischen Konflikt und der Frage der Nationalität. 

KNA: Dennoch lauern beim Dialog offenbar Fallstricke... 

Ben-Johanan: Die jüdischen Gemeinden in Europa müssen sich an die Wahrnehmung der Mehrheit anpassen. Als Minderheit müssen sie sich selbst aus der Perspektive der Mehrheit betrachten. Der Blick von außen wird verinnerlicht, weil man sich nach dem Blick des anderen aus der Mehrheit positionieren muss. 

Wenn man jedoch den externen Blick der Mehrheit auf sich selbst berücksichtigt, wird man darauf achten, die Regeln nicht zu verletzen. In Israel gibt es eine Vielfalt von Juden, und wir können sagen, was wir wollen, auch polemische Dinge. 

KNA: Sie haben eine Zeit in Berlin gelehrt. Wie haben Sie diese Zeit empfunden? 

Ben-Johanan: Die größte Herausforderung bestand darin, dass ich als israelische Wissenschaftlerin kam, die den jüdisch-christlichen Dialog von außen betrachtet - von einer säkularen Erziehung und Ausbildung her. Ich war Historikerin und näherte mich Katholiken und orthodoxen Juden. Aber keiner von ihnen war ich, zwei Gemeinschaften, denen ich nicht angehörte. 

Ich lehrte an einer evangelischen theologischen Fakultät jüdisch-christliche Beziehungen und war auf einmal der Jude, der mit Christen im Dialog stand. Es gab keine Möglichkeit, das zu umgehen, ein bisschen wie ein Meta-Jude. Ich war darauf vorbereitet, die Israelin zu vertreten. 

Menschen demonstrieren vor der Knesset gegen die Regierung des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu und fordern die Freilassung der Geiseln, die im Gazastreifen von der palästinensischen Hamas festgehalten werden.  / © Leo Correa/AP (dpa)
Menschen demonstrieren vor der Knesset gegen die Regierung des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu und fordern die Freilassung der Geiseln, die im Gazastreifen von der palästinensischen Hamas festgehalten werden. / © Leo Correa/AP ( dpa )

Aber plötzlich vertrat ich das Judentum - das mich in Israel niemand je hätte vertreten lassen. Es ist, wie wenn man eine Rolle in einem Stück spielt, das man nicht geschrieben hat, und von dem man das Szenario nicht kennt, weil man noch nie dort war. Es war überwältigend. Gleichzeitig verstand ich den tiefgreifenden Unterschied zwischen israelischen Juden und Juden in der Diaspora. 

KNA: Hat Sie die Erfahrung mehr zu einer Jüdin gemacht? 

Ben-Johanan: Es hat mir gezeigt, wie sehr ich eine Jüdin bin und auch nach meiner Rückkehr nach Israel begleitet. Ich konnte nicht mehr zur Idee der distanzierten Forscherin zurückkehren. Eine Minderheit zu sein hat also etwas, das sehr anspruchsvoll in Bezug auf die Identität ist. 

KNA: Nächstes Jahr jährt sich "Nostra Aetate" zum 60. Mal. In welche Richtung geht der Dialog? 

Ben-Johanan: Die Globalisierung der Kirche stellt eine große Herausforderung dar, denn die Hauptinvestition in den jüdisch-christlichen Dialog war eine westliche. Jetzt, da sich der Schwerpunkt der Kirche verlagert, wissen Juden nicht, wie sie mit Christen aus dem globalen Süden sprechen sollen. 

Die Themen der Kirchen in Südamerika, Asien und Afrika sind eine Herausforderung auch für die westlichen Kirchen, und sie marginalisieren den jüdisch-christlichen Dialog. Wenn wir keinen Weg finden, in die Globalisierung des Dialogs zu investieren, wird er nicht überleben.

Das Interview führte Andrea Krogmann.

Stolpersteine von Gunter Demnig

Über 70.000 Stolpersteine hat er schon verlegt - fast überall in Europa erinnern sie an das Schicksal von deportierten Juden. Doch am Ziel ist der Künstler Gunter Demnig noch längst nicht. Junge Menschen könnten anhand von Einzelschicksalen die NS-Verbrechen besser aufarbeiten, sagte er im Interview der Deutschen Presse-Agentur. Deshalb will er noch viel mehr Stolpersteine vor Häusern verlegen, in denen die Menschen einst lebten.

Gunter Demnig verlegt 70.000. Stolperstein / © Thomas Rohnke (epd)
Gunter Demnig verlegt 70.000. Stolperstein / © Thomas Rohnke ( epd )
Quelle:
KNA