Der Weg vom römischen Dichter Ovid zu einer Mystikerin im Mittelalter und den Beatles ist eigentlich gar nicht so weit. Zumindest nicht für Racha Kirakosian. Die Professorin für germanistische Mediävistik mit Schwerpunkt religiöse Textkultur des Mittelalters an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hat ein Buch über die Geschichte der Ekstase verfasst. Ergebnis einer Materialsammlung quer durch die Jahrhunderte, wie sie sagt. Schnell wird klar: Ekstase gehört zum Menschen. Aber wenn der Mensch ganz der Ekstase gehört, geht die Sache schon mal schief.
KNA: Frau Kirakosian, im Rheinland und andernorts stehen Karneval und Fasching vor der Tür - brauchen wir Menschen Ekstase?

Racha Kirakosian (Autorin und Professorin für germanistische Mediävistik mit Schwerpunkt religiöse Textkultur des Mittelalters an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg): Diese Frage müssten eigentlich Anthropologinnen oder Psychologen beantworten. Aber festhalten lässt sich, dass es so etwas wie Ekstase immer schon gegeben hat. Übrigens nicht nur beim Menschen, sondern bei allen fühlenden Lebewesen - soweit wir das mit unseren groben Instrumentarien messen können. Aber zu Karneval fällt mir noch etwas anderes ein.
KNA: Nämlich?
Kirakosian: Die Überlieferungen rund um die Visionärin und Ordensfrau Gertrud von Helfta. Die bittet laut ihrer Vita, die vor 700 Jahren entstanden ist, Christus um Wegweisung, wie sie die von ihren Mitmenschen zur Karnevalszeit begangenen Sünden wiedergutmachen könne. Da ist dann die Rede von Frauen, die sich wie Männer anziehen und Männern, die sich wie Frauen kleiden. Die Gebete, die es bei dieser Gelegenheit zu sprechen galt, wurden in einigen Handschriften weiter tradiert.
KNA: Das heißt?
Kirakosian: Dass es bei Gertrud von Helfta und anderen ein Interesse daran gab, auf das Leben außerhalb der Klostermauern zu reagieren. Das waren keine abgeschlossenen Welten. Davon unabhängig zeugt der Karneval von dem Versuch, das Bedürfnis nach Enthemmung irgendwie in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken - wohl um das Zusammenleben in der Gesellschaft nicht komplett zu sprengen.
KNA: Woher kommt der Begriff "Ekstase"?
Kirakosian: Ursprünglich aus dem alten Griechenland. Der Begriff findet sich erstmals in den hippokratischen Schriften und bezeichnet eine Fehlausrichtung der Hüftgelenke, wenn das Gelenk nicht mehr richtig in der Gelenkpfanne sitzt. Eine wörtliche Übersetzung lautet: "Außerhalb-des-Selbst-Stehen". Philosophen wie Aristoteles im vierten Jahrhundert vor Christus und der im Jahr 270 nach Christus gestorbene Plotin gaben dem dann eine metaphysische Bedeutung.
KNA: Haben Männer und Frauen ein jeweils anderes Empfinden von Ekstase?
Kirakosian: Ich denke in diesem Zusammenhang an die vor über 2.000 Jahren verfassten Metamorphosen des römischen Dichters Ovid und die Geschichte von Tiresias. Die Götter Juno und Jupiter streiten sich darüber, wer den besseren Sex hat. Interessanterweise behauptet Zeus: Das sind die Frauen. Hera hält dagegen: Nein, das sind die Männer.
Schließlich wenden sie sich an Tiresias, der sieben Jahre als Frau gelebt hat. Er bestätigt: Die Frauen haben den besseren Sex. Aus Zorn, dass sie die Wette verloren hat, schlägt Juno den Tiresias mit Blindheit.
KNA: Auch Sex ist eine Form von Ekstase?
Kirakosian: Ekstase ist ein Begriff mit vielen Schubladen. Die eine Form von Ekstase gibt es nicht. Eigentlich müsste man dem Wort immer misstrauen und überall da, wo "Ekstase" steht, fragen: Geht es nicht auch etwas präziser?
KNA: Dann machen wir doch einfach mal eine andere Schublade auf. Dem früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt wird der Ausspruch zugeschrieben: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen." Erleben wir derzeit, Beispiel Donald Trump, die Rückkehr von Ekstase in der Politik?
Kirakosian: Also, wenn Sie von Rückkehr sprechen, gehen Sie davon aus, dass es eine Zeit lang nicht so war...
KNA: Naja, Olaf Scholz ist das Gegenteil von Ekstase.
Kirakosian (lacht): Das sagen Sie. Im Ernst: Emotionen sollten einen Platz in der Politik haben, wenn sich zum Beispiel Katastrophen ereignen oder andere Tragödien passieren. Auch sollten Politikerinnen und Politiker der Bevölkerung, die sie repräsentieren, mit Empathie begegnen.
KNA: Aber?
Kirakosian: Ich denke, unsere Demokratie basiert - oder sollte basieren - auf rationalen Pfeilern, auf Entschlüssen, die von logischem Denken geprägt sind. Mir bereitet Sorge, dass Affekte als impulsive Form von Emotion eine immer größere Rolle spielen. Helmut Schmidt hatte übrigens einen Vorläufer: Jean Gerson.
KNA: Wer war das?
Kirakosian: Ein französischer Theologe und Kanzler der Sorbonne in Paris. Gerson hat im 15. Jahrhundert mit Blick auf religiöse Visionen gefordert, diese müssten erst einmal untersucht werden. "Unterscheidung der Geister" lautet das Stichwort. Im Gegensatz zu Helmut Schmidt hätte Gerson aber vermutlich nicht ausgeschlossen, dass Visionen vielleicht doch Erkenntnisse liefern können. Wenn sie denn aus göttlicher Quelle kommen.
KNA: In Ihrem soeben erschienenen Buch "Berauscht der Sinne beraubt" erwähnen Sie als weitere Beispiele für ekstatische Erfahrungen, unter anderem den Konsum von Drogen und Massenaufläufe bei Spielen der Fußball-Bundesliga. Ekstase hat offenbar immer etwas Janusköpfiges, ist eine Gratwanderung zwischen Absturz und Aufstieg in andere Sphären.
Kirakosian: Diese Ambivalenz ist immer da, ja.
KNA: Auch bei der Musik - oder ist wenigstens hier die dunkle Seite der Ekstase ausgeblendet? Sie schildern Trance-Erfahrungen beim Techno. In den 60er-Jahren versuchten Gruppen wie The Doors und Led Zeppelin solche Zustände erlebbar zu machen.
Kirakosian: Bei den Doors oder auch den Beatles haben bewusstseinserweiternde Substanzen zu einer Kreativität geführt - beziehungsweise, es wird so ausgelegt. Man weiß ja nicht, ob sie auch ohne diese Substanzen auf diese Musik gekommen wären.
The Doors wollten, dem Bandnamen nach, zweifelsohne Türen öffnen zu einer transzendenten Ebene in Anlehnung an Aldous Huxleys "The Doors of Perception". Aber das werden nicht alle Menschen so empfinden. Ich kenne zum Beispiel Leute, die eine ganz starke Abneigung gegen die Musik von Richard Wagner verspüren, weil sie sich dadurch emotional manipuliert fühlen.