Zum Auftakt des Prozesses gegen den ehemaligen Krankenpfleger Niels Högel haben Politiker, Ärzte und Patientenschützer bessere Schutzvorkehrungen in Kliniken und Heimen gefordert. Högel soll von 2000 bis 2005 an Kliniken in Delmenhorst und Oldenburg zahlreiche Patienten getötet haben. Er räumte am ersten Verhandlungstag ein, dass die Vorwürfe weitgehend zuträfen.
Dem bereits zu lebenslanger Haft verurteilten 41-Jährigen werden 100 weitere Morde zur Last gelegt - die vermutlich größte Mordserie der Nachkriegsgeschichte. Er soll seinen Opfern absichtlich Medikamente verabreicht haben, die zum Herzstillstand führten, um sie anschließend reanimieren zu können.
Psychotherapeut: "Tötungsdelikte schwer zu erkennen"
Nach Darstellung des Psychotherapeuten Karl H. Beine, Chefarzt für Psychiatrie und Psychotherapie am St. Marien-Hospital in Hamm, gab es in Deutschland seit den 70er Jahren bislang zehn gerichtsbekannte Tötungsserien in Kliniken und Heimen. Solche Tötungsdelikte seien schwer zu erkennen, sagte der Professor an der Universität Witten/Herdecke am Dienstag im Interview mit Spiegel Online. "Der Tod ist im Krankenhaus normal. Und die Methoden, mit denen getötet wurde, wirken oberflächlich betrachtet wie alltägliche medizinische Verrichtungen."
Beine hatte 2017 für erhebliche Debatten gesorgt, weil er für eine Studie rund 5.000 Ärzte, Kranken- und Altenpfleger gefragt hatte, ob sie selbst in den vergangenen zwölf Monaten lebensbeendende Maßnahmen aktiv an Patienten vorgenommen oder solche beobachtet hätten. Das Ergebnis: In Krankenhäusern hätten gut drei Prozent der Ärzte geantwortet, sie selbst hätten dies bereits getan, ebenso fünf Prozent der Altenpfleger und eineinhalb Prozent der Krankenpfleger.
Kritiker verwiesen darauf, dass die Fragestellung nicht eindeutig gewesen sei. Auch Beine selber betonte, die Studie sei nicht repräsentativ gewesen. Zudem könnten Beihilfe zum Suizid und das Abstellen von Maschinen aufgrund von Patientenverfügungen mitgezählt worden sein.
Verdachtsfälle wurden ignoriert oder vertuscht
Auf die Frage, warum solche Mordserien möglich seien, erklärte der 67-Jährige: "Bevor sich Ungereimtheiten zu einem Verdacht formieren, dauert es. Zudem gibt es erschreckendes Versagen der Führungen in Krankenhäusern." Hinweise würden nicht ernst genommen. Dann entstehe eine Arbeitsatmosphäre, in der die Mitarbeiter ihre Bedenken nicht mehr äußerten.
Verantwortliche in den Kliniken hätten konkrete Verdachtsfälle ignoriert oder gar vertuscht, so der Mediziner weiter. Auch hätten sie gute Zeugnisse geschrieben und Verdächtigen damit geholfen, in anderen Einrichtungen zu arbeiten. Von dem Prozess gegen Högel erhofft er sich, "dass sich der Aufklärungswille und der Aufklärungszwang in deutschen Kliniken vergrößert".
Misstrauisch werden müssten Verantwortliche, wenn ein Mitarbeiter bei Todes- oder Notfällen auffällig häufig anwesend sei, riet Beine. Eine schleichende Persönlichkeitsveränderung müsse ebenso auffallen wie ein menschenverachtender Umgangston. Zum Täterprofil sagte Beine, sie seien überdurchschnittlich unsicher und reagierten besonders sensibel auf Kritik oder ausbleibendes Lob.
"Sie denken, sie tun dem Menschen einen Gefallen"
"Vermutlich haben sie den Helferberuf auch deshalb ergriffen, um sich im Glanze seines Sozialprestiges zu sonnen." Die permanente Konfrontation mit Sterben und Leid verbinde sich dann mit ihrer eigenen Verbitterung. Högel habe seinen Selbstwert dadurch stabilisiert, dass er "selbstgemachte Notfälle inszenierte und anschließend beherrschte". Andere töteten direkt: "Sie denken, sie tun dem Menschen einen Gefallen, den sie von 'seinem Leiden erlösen'."
Auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz forderte am Dienstag Konsequenzen. Vorstand Eugen Brysch verlangte im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland länderübergreifende Sicherheitsvorkehrungen für Kliniken und Heime. Dazu zählte er Anlaufstellen für anonyme Hinweisgeber, eine lückenlose elektronische Kontrolle der Medikamentenabgabe sowie amtsärztliche Leichenschauen.
Auch der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Stephan Thomae erklärte, strukturelle Missstände in der Organisation der Krankenhäuser müssten identifiziert werden. Auch sollten Konzepte wie die Stationsapotheken und anonymen Meldesysteme bundesweit Schule machen.
Von Christoph Arens