Im schleswig-holsteinischen Wacken herrscht erstmals nach zweijähriger Corona-Pause wieder Ausnahmezustand: Mehr als 75.000 Besucher sind zum Wacken Open Air (WOA), einem der größten Heavy-Metal-Festivals der Welt, in das 1.800-Einwohner-Dorf gereist. Auf den Äckern, wo sonst die Kühe weiden, haben sie ihre Zelte aufgeschlagen und feiern zu harten Klängen von Bands wie Judas Priest, Slipknot und In Extremo.
Zwischen Party und Irritation
"Viele Menschen sind froh, endlich wieder Party machen zu können", sagt der katholische Diakon Lutz Neugebauer. "Auf der anderen Seite ist es für viele das erste Mal seit Beginn der Corona-Pandemie, wieder Zehntausende Leute auf einem Haufen zu erleben. Das sorgt bei manchem auch für Irritation und Belastung."
Der 50-Jährige ist Mitglied im Team der Festivalseelsorge der evangelischen Nordkirche auf dem Wacken Open Air. 20 ausgebildete Fachleute, darunter Psychotherapeuten, Diakone, Sozialpädagogen und Pastoren, kümmern sich rund um die Uhr um die ganz persönlichen Sorgen der Fans. Zu erkennen sind sie an ihren blauen Westen mit der Aufschrift "Seelsorge". Bei Bedarf steht ein Zelt für Gespräche zur Verfügung.
Umgang mit Corona-Folgen
Auf den Umgang mit Corona-Folgen haben sich die Seelsorger eigens vorbereitet. Psychologen und Psychotherapeuten haben das Team im Vorfeld im Umgang mit Einsamkeit und Existenzängsten geschult. Und in der Tat kämen solche persönlichen Themen auf dem WOA zutage, berichtet Neugebauer. "Für viele ist so ein Festival ein Ventil, um Dampf abzulassen." So habe er bereits einige Gespräche mit Einzelbesuchern geführt, die sich in der großen Masse plötzlich einsam fühlten.
Dem ersten Eindruck nach sei die Nachfrage nach Seelsorge auf dem Festival höher als in den Vorjahren, sagt die Leiterin des Teams, die evangelische Landesjugendpastorin Annika Woydack. Auch habe es gleich am ersten Einsatztag viele Fälle und "deutliche Gespräche" gegeben - unter anderem ging es um Panikattacken, Traumatisierungen und Depressionen.
Politische und gesellschaftliche Krisenthemen wie der Ukrainekrieg, der Klimawandel und die Inflation bleiben dagegen nach Wahrnehmung der Seelsorger außen vor. "Beim Festival steht das Feiern im Mittelpunkt. Da ist ja auch verständlich, dass solche Themen eher ausgeblendet werden", sagt Neugebauer.
Nur in bislang einem seiner Gespräche sei es auch um den russischen Angriffskrieg gegangen. Eine gebürtige Russin, die in ein anderes Land ausgewandert sei, sei eigentlich wegen eines anderen Themas zu ihm gekommen. "Ihre Herkunft hat sie erst nach einiger Zeit und nur sehr vorsichtig erwähnt. Man merkte, dass es ihr in der Seele wehtut, für etwas verantwortlich gemacht zu werden, für das sie gar nichts kann."
"Ich brauche euch nicht, aber gut, dass ihr für die anderen da seid"
Von den Festivalbesuchern erhalten die Seelsorger viel positives Feedback. "Einer der Sätze, die ich in diesen Tagen am häufigsten höre, ist: Ich brauche euch nicht, aber gut, dass ihr für die anderen da seid", so Neugebauer. Beschimpfungen, wie sie viele andere Kirchenmitarbeiter in jüngster Zeit aufgrund des Missbrauchsskandals erfahren haben, habe er auf dem Festival noch nicht erlebt.
Seelsorge gibt es auf dem WOA seit 2010. Das von der Nordkirche entwickelte Konzept dient inzwischen als Vorbild für vergleichbare Angebote, etwa auf dem Greenfield-Festival in der Schweiz. In den vergangenen Jahren führten die Seelsorger jeweils zwischen 250 bis 300 Gespräche auf dem Metal-Festival, wo sie immer vier Tage lang im Einsatz sind. "Ich bin sicher, es werden dieses Jahr mehr", sagt Woydack.
Die Festivalseelsorge ist nicht das einzige Angebot der Kirchen auf dem WOA. Bereits am Mittwochabend wurde die Wackener Dorfkirche bei einem eigens für die Festivalbesucher gestalteten Gottesdienst zur "Metal Church". Im Anschluss trat eine kroatische Metal-Gruppe in der Kirche auf.
Für Neugebauer, der im normalen Leben als Krankenhaus- und Notfallseelsorger in Hamburg arbeitet, ist der Einsatz auf dem Festival eine zeitgemäße Form, den christlichen Glauben zu leben. "Als katholischer Diakon bin ich verpflichtet, Menschen in Not beizustehen. Das gilt auch für ein Metal-Festival, das mit seinen mehreren Zehntausend Besuchern vorübergehend die drittgrößte Stadt Schleswig-Holsteins ist."