Manchmal kommen die Anrufe mitten in der Nacht. Eltern, die bei ihren Kindern extremistische Tendenzen feststellen, sind oft so verzweifelt, dass die Uhrzeit keine Rolle mehr spiele, erzählt Thomas Mücke, Geschäftsführer von "Violence Prevention Network", einer Organisation, die mehrere regionale und eine bundesweite Beratungshotline zu Extremismus unterhält.
Anrufe haben zugenommen
Seit dem Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel beobachtet er eine deutliche Zunahme der Eltern-Anrufe. Verdreifacht hätten sich die Anfragen; über 100 Mütter und Väter zeigten sich in den vergangenen Wochen besorgt, dass ihre Kinder in den islamischen Extremismus abgleiten könnten.
"Das sind ernstzunehmende Anfragen, kein Alarmismus, wie wir ihn etwa nach Terroranschlägen oft erleben", sagt er.
Kinder können gar nicht alleine konvertieren
Oft geht es demnach um Mädchen. "Das ist bei unserer Hotline gerade der Klassiker. Eine Mutter erzählte etwa von einer Zwölfjährigen, die heimlich zum Islam konvertiert sei", so Mücke. Dies sei ein Alarmzeichen dafür, dass eine extremistische Organisation dahinterstecke: Religionsmündig ist man in Deutschland erst ab 14 Jahren und darf auch erst dann die Religion unabhängig von den Eltern wählen.
"Oft kommen dann Aussagen hinzu, dass der Islam die einzig wahre Religion sei und durch ihn alles besser werde. Auch wird oft ein Schulabbruch in Erwägung gezogen und versucht, die Familie in ihrer Lebensweise zu beeinflussen und zu missionieren."
Radikalisierungsgefahr auch bei deutschen Kindern
Die meisten Anrufer, die sich um ihre zwölf- bis 26-jährigen Kinder sorgen, sind demnach deutscher Herkunft. Dies liege auch daran, dass deutsche Familien bei Beratungsbedarf eher Hilfsangebote in Anspruch nähmen, erklärt Mücke. "Wir müssen davon wegkommen, zu glauben, dass es sich bei Radikalisierungsgefahr nur um ein Problem innerhalb des Migrationsmilieus handelt", mahnt er.
Islamistische Organisationen versuchten, "immer alle anzusprechen, um für die Ideologie zu werben". Dies werde vor allem über Emotionen versucht, etwa wenn Bilder von leidenden und sterbenden Kindern im Gazastreifen gezeigt würden. "Junge Menschen sind über die moralische Instanz leicht erreichbar", so Mücke.
Auch der IS rekrutierte junge Frauen
Ein Phänomen, dass die kanadische Forscherin Marie Lamensch schon vor Jahren im Zusammenhang mit der Rekrutierung der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) für Syrien beschrieben hat. Nicht selten fühlten sich junge Frauen in Europa zunächst aus humanitärem Interesse von der terroristischen Propaganda angesprochen.
Viele von ihnen wollten eigentlich Ärztinnen, Krankenschwestern oder Sozialarbeiterinnen werden, so Lamensch. Nach Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung erzielten jene Propaganda-Bilder besonders viele Reaktionen, die verwundete oder tote Kinder aus Syrien zeigten.
Manche Kinder sind besonders empfänglich
Besonders empfänglich seien Kinder in Trennungssituationen oder anderen problematischen Familiendynamiken für islamischen Extremismus, erklärt Berater Mücke. "Bevor sich jemand von Extremisten ansprechen lässt, gehen andere Konflikte voraus", erklärt Mücke.
Dies sei unabhängig vom Beruf der Eltern oder der sozialen Schicht. Auch "die Tochter eines Polizeibeamten oder der Sohn einer Lehrerin" könne von der Gesellschaft, dem Elternhaus und dem Freundeskreis entfremdet werden.
Vor allem über Wertschätzung und Interesse gelinge es den Extremisten, die Aufmerksamkeit der Jugendlichen zu bekommen, erklärt Mücke - meist über Gleichaltrige, oft in der Schule. "Die Jugendlichen werden freundlich eingeladen, lernen zunächst einmal vor allem die schönen Seiten des Islam kennen."
Eltern sollten Verständnis zeigen
Mücke, der seit vielen Jahren als Berater tätig ist, weiß um die Verzweiflung vieler Eltern, die ihre Kinder nicht mehr erreichen können. "Am wichtigsten ist es deshalb, die Kommunikation nicht abbrechen zu lassen", betont er. "Die Extremisten wollen ja, dass es zu Konflikten in der Familie und im Freundeskreis kommt, damit nur noch sie Zugang zu dem Jugendlichen haben."
Trotz aller Ängste um das Kind sollten Eltern deshalb gesprächsbereit bleiben und Verständnis zeigen. "Junge Menschen brauchen einen Raum, wo sie sich äußern können. Beim Kind darf nicht hängenbleiben, dass die Eltern gegen es sind – sondern dass sie sich Sorgen machen."