"Man kennt nie das Ende", meinte Alfred Hitchcock kurz vor seinem Tod. Und fügte hinzu, man müsse sterben, um genau zu wissen, was danach geschehe. "Obwohl Katholiken da ihre Hoffnungen haben." Am Morgen des 29. April 1980, vor 40 Jahren, war es soweit.
Der Spezialist für Mord und Totschlag im Kino tat im realen Leben in Los Angeles seinen letzten Atemzug. Der Abspann zeigte den Regisseur als reichen Mann; zu Hitchcocks millionenschwerem Vermögen zählten Anteile an Öl- und Gasquellen, 66 Kisten mit Spitzenweinen und 2.250 Stück Vieh auf seinen Farmen.
"Ich beobachte lieber"
Rückblende: Ein Sinn für Geschäfte war dem Sohn eines Gemüsehändlers wohl in die Wiege gelegt. Geboren im Londoner East End am 13. August 1899, ging der junge Alfred zu anderen Menschen eher auf Distanz, anstatt sie für sich einzunehmen. Klassenkameraden beschrieben ihn als einsamen, dicken Jungen, "der einen anlächelte und musterte, als könne er einen glatt durchschauen". Mit jedweder Form von körperlicher Bewegung hatte Hitchcock zeitlebens nichts am Hut.
"Meine Art Sport spielt sich oberhalb des Halses ab", pflegte er zu sagen. "Ich beobachte lieber."
Und so geisterte Hitchcock durch London wie durch eine Filmkulisse, besuchte Theateraufführungen und das Polizeimuseum von Scotland Yard, verschlang Krimis - oder studierte Landkarten und Fahrpläne. Noch als junger Mann umgab ihn eine gewisse Ziellosigkeit. Bis er bei seinem ersten Arbeitgeber, der Henley Telegraphen- und Kabelgesellschaft, in der Werbeabteilung landete. Zu seinen ersten Aufgaben gehörte die Illustration einer Broschüre über die Vorzüge elektrischer Beleuchtung in öffentlichen Gebäuden.
Hitchcock schrieb "Kirchenbeleuchtung" auf die Umschlagseite und zeichnete dazu zwei Kerzen. "Alles andere ließ ich in tiefster Dunkelheit", erinnerte sich der Filmemacher später. "Das sollte suggerieren, dass Kerzen allein nicht ausreichten, um eine Kirche auszuleuchten." Humor, ein feines Gespür für Timing und die Bedeutung von Licht und Schatten: Hier blitzte das Genie Hitchcocks auf. Und plötzlich passte alles zusammen: 1920, vor 100 Jahren, kam er zum Film. In einer Stadt, die ein früher Hotspot der europäischen Kinokultur war.
Der spätere Regisseur lernte sein Handwerk von der Pike auf. Und entwickelte einen enormen Ehrgeiz. Bereits wenige Jahre später schaute er in Berlin Größen wie Ernst Lubitsch und Friedrich Wilhelm Murnau über die Schulter. Der Mann mit dem markanten Doppelkinn machte von sich reden. Über eines seiner Frühwerke, "The Mountain Eagle", urteilte die Kritik 1926, Hitchcock erweise sich "als geschickter und streckenweise brillanter Regisseur". Sein bevorzugtes Sujet: menschliche Abgründe.
"Meister der Suspense"
Schuld und Angst, Scham und Sex - für diese immer wiederkehrenden Motive brauchte der "Meister der Suspense" nach Ansicht seines Biographen Donald Spoto keine Drehbücher. Letzten Endes habe Hitchcock aus der dunklen Seite des katholischen Milieus geschöpft, mit dessen rigiden Moralvorstellungen er im mehrheitlich anglikanischen England aufgewachsen war. Der Filmemacher blieb seinen Themen treu - auch nach seinem Wechsel nach Hollywood 1939.
In den USA entstanden zwischen Ende der 1940er- und Mitte der 1960er-Jahre Hitchcocks bekannteste Werke, angefangen bei "Die rote Lola" mit Marlene Dietrich über "To Catch a Thief" ("Über den Dächern von Nizza") mit Grace Kelly und Cary Grant bis hin zu "Psycho" mit Anthony Perkins als unheimlichem Triebtäter. Ein Schatten liegt freilich über dieser Zeit. In "Die Vögel" ging der manische Perfektionist Hitchcock 1962 zu weit. Immer wieder setzte er seine Hauptdarstellerin Tippi Hedren den Attacken von dressierten Vögeln aus. Die Schauspielerin erlitt einen Zusammenbruch.
"Hässlich, brutal und unbarmherzig" seien die Dreharbeiten gewesen, so Hedren Jahrzehnte später. Beim nächsten Film "Marnie" wurde sie abermals von Hitchcock erniedrigt und überdies sexuell belästigt. Ein nach Angaben seines Biographen Spoto einmaliger persönlicher Tiefpunkt in der Karriere des Regisseurs, dessen filmisches Erbe noch heute auf der Höhe der Zeit ist.