Wie Friedensprogramme in Afrika wirken

"Ich glaube an diese Form partnerschaftlicher Zusammenarbeit"

In vielen Ländern Afrikas sind die Menschen von der Gewalterfahrung jahrzehntelanger Bürgerkriege gezeichnet. Aus eigener Kraft schaffen sie es oft nicht, das erlittene Trauma zu verarbeiten. Hoffnung machen da Menschen wie Manfred Rink.

Zuhören ist ein wichtiger Aspekt, wenn es um die Verarbeitung von Gewalterfahrungen geht. / © Löffke (AGEH)
Zuhören ist ein wichtiger Aspekt, wenn es um die Verarbeitung von Gewalterfahrungen geht. / © Löffke ( AGEH )

DOMRADIO.DE: Herr Rink, Sie leben seit Anfang des Jahres in Liberia, waren aber 15 Jahre lang als Fachkraft der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH) Koordinator des Programms „Ziviler Friedensdienst“ im Nachbarland Sierra Leone. In Freetown, der Hauptstadt, waren Sie außerdem als Dozent und Berater in der Friedens- und Konfliktforschung tätig. Wie haben Sie die Situation in diesem Land erlebt?

Manfred Rink (AGEH-Fachkraft im Zivilen Friedensdienst): Der elfjährige Bürgerkrieg, der bis 2002 in Sierra Leone tobte, hat in der gesamten Bevölkerung Spuren eines furchtbaren Zerstörungswerks hinterlassen: körperlich und seelisch. Es gibt eine Unmenge an bein- und armamputierten Menschen, denen oft als Bestrafungsmaßnahme die Gliedmaßen abgehackt wurden. Die Anzahl der Kinder, die ihren Familien von Rebellen entrissen und schon mit neun und zehn Jahren gezwungen wurden, Teil dieser politischen Auseinandersetzungen zu sein, ist groß. Die Jungen wurden an der Waffe ausgebildet und die Mädchen zu Sexsklavinnen gemacht. Sierra Leone ist eines der korruptesten und unterentwickeltesten Länder weltweit. Es herrschen große Armut und Nepotismus. In den vielen kleinen Volksstämmen kommt es immer wieder zu ethnischen Konflikten. Das Land wurde jahrelang von einer katastrophalen politischen Führung ausgebeutet; ganze Bevölkerungsgruppen sind von einer Teilhabe an den Ressourcen ausgeschlossen. Einen Höhepunkt erreichte die Not der Menschen, als sich Charles Taylor, der Präsident des Nachbarlandes Liberia und bekannt als einer der brutalsten „Warlords“ Afrikas, als Strippenzieher dann auch in diesen Bürgerkrieg einmischte, indem er die Rebellen finanzierte, die in Sierra Leone mit großer Brutalität einfielen und Kindersoldaten einsetzten, um diese dazu zu bringen, ihre eigenen Dörfer zu überfallen und zu plündern. Im Gegenzug ließ sich der Despot mit Blutdiamanten bezahlen. Das war die Situation, als ich ein Jahr nach Beendigung dieser schrecklichen Gräueltaten als erste AGEH-Fachkraft überhaupt zu einer katholischen Nichtregierungsorganisation nach Freetown kam, wo ich an der Reintegration ehemaliger Kindersoldaten – Jugendliche zwischen neun und 20 Jahren – mitarbeiten sollte.

DOMRADIO.DE: Gibt es denn überhaupt Hoffnung auf Heilung für Menschen, die von klein an mit einer derart unmenschlichen Gewalt konfrontiert wurden?

Rink: Ich habe zum Teil unerträgliche Geschichten zu hören bekommen, die jede Vorstellungskraft sprengen und über die ich selbst oft zutiefst erschüttert war. Diese Form praktizierter Gewalt kalkuliert nicht nur bewusst eine soziale Verrohung, sie hat auch zu einer Unmenge höchst traumatisierter Menschen geführt. Kinder wurden gezwungen, ihre eigenen Eltern oder Geschwister zu erschießen, wenn sie selbst überleben wollten. Vor ihren Kampfeinsätzen wurden sie mit Drogen vollgepumpt, um Angst abzubauen und völlig enthemmt zu sein. Da es in Sierra Leone keine Traumatherapeuten gibt, bestand mein Auftrag darin, mit den Sozialarbeitern am Ort psychosoziale Angebote für die Menschen dort zu entwickeln. Aber allein schon jemanden zu haben, der zuhört, war vielen eine große Hilfe. Außerdem ging es darum, Jugendliche, die aus ihren Dörfern verschleppt worden waren, wieder in ihr ursprüngliches Umfeld zurückzubringen, um sie dort neu zu integrieren. Wenn das eine Dorfgemeinschaft ablehnte, weil manches Verbrechen so grausam war, dass man dort die dafür Verantwortlichen nicht mehr haben wollte, selbst wenn sie noch Kinder waren, haben wir dennoch versucht, solche Communities auf dem Land zu begleiten. Und für die Jugendlichen, die gar nicht mehr reintegriert werden konnten, haben wir Pflegefamilien gefunden. Ein paar Jahre später bekam ich dann von der AGEH den Auftrag, dieses Programm für das ganze Land zu koordinieren, wozu die Entwicklung einer Strategie, die Auswahl von entsprechenden Partnern am Ort und die Begleitung von Fachkräften zählten. Friedensarbeit bedeutet letztlich, nah an den Bedürfnissen der Menschen zu arbeiten, Ressourcengovernment zu betreiben sowie immer auch die Rechte von Frauen und Kindern zu stärken.

DOMRADIO.DE: Traurige Schlagzeilen hat Sierra Leone 2014 dann auch mit der Ebola-Epidemie gemacht, die das Land in seiner Entwicklung erst einmal wieder weit zurückgeworfen hat…

Rink: Ja, Ebola war eine tödliche Bedrohung, die das gesamte Leben zum Erliegen brachte. Alles drehte sich nur noch um Ebola, nichts ging mehr: Die Schulen und Unis wurden geschlossen. Beim Eisenerz-Abbau, der Jahre zuvor noch für ein gewisses wirtschaftliches Wachstum gesorgt hatte, brachen die Preise ein. Das komplette soziale Leben veränderte sich. Keiner ging mehr aus. Wer raus aus der Stadt fuhr, wurde unterwegs an Checkpoints auf Fieber hin getestet. Das Land verfiel in vollkommene Lethargie. Jeder hatte davor Angst zu sterben. Natürlich kamen mehrere Faktoren zusammen – es war nicht allein die Krankheit schuld –, als am Ende ein ganzes Land kollabierte. Das heißt, wir mussten uns auf die neue Situation umstellen. Alle Fachkräfte wurden evakuiert. Aber ich gehörte zu denen, die freiwillig bleiben wollten – bei meiner Familie, da, wo ich hingehörte.

DOMRADIO.DE: Was haben Sie in dieser Zeit gemacht?

Rink: Ich habe mit Radio-Arbeit angefangen, um über Ebola aufzuklären. Denn man muss wissen, dass Afrika ein Radio-Kontinent ist. Alles, was mir an Nachrichten zum Thema Ebola wichtig erschien, habe ich gesendet und auf diese Weise mit Kampagnen Bewusstseinsbildung betrieben. Damals bin ich an der Peripherie von Freetown, dem Gebiet der Western Area, von Radiostation zu Radiostation gefahren, während die großen Hilfswerke die Großstädte abdeckten. Ich habe immer an das Präventionsprogramm der Regierung in Kooperation mit der internationalen Gemeinschaft geglaubt. Nach anderthalb Jahren war das Land dann tatsächlich frei von Ebola. Aber während sich die Einheimischen in dieser Zeit aufgeopfert und unglaublich viel geleistet haben, war es den Eliten wieder einmal nur um sich gegangen. Schamlos hatten sie sich in der Zwischenzeit an Ebola-Geldern, die aus der ganzen Welt geflossen waren, bereichert.

DOMRADIO.DE: Wie ging es denn den Betroffenen nach dieser Krise?

Rink: Viele Familien hatten Tote zu beklagen. Insgesamt starben 11.000 Menschen an dem Ebola-Virus. Später war dann ein nicht unwesentlicher Nebeneffekt dieser Krise, dass neun Monate später die Geburtenrate explodierte; es kam zu einer Unmenge an Schwangerschaften bei Minderjährigen. Auch das war eine Begleiterscheinung dieser Epidemie, da die Menschen lange Zeit ihre Häuser kaum verlassen konnten.

DOMRADIO.DE: Wer als Fachkraft für viele Jahre in ein anderes Land geht, muss sich sicher auch soweit damit identifizieren, dass für ihn in der neuen Umgebung eine Form von Beheimatung stattfinden kann. War Ihnen das möglich, oder sind Sie heute noch immer ein „Fremder“ unter den Afrikanern?

Rink: Ursprünglich wollte ich immer nach Südafrika. Aber heute bin ich von dem Konzept des Zivilen Friedensdienstes, ein Programm des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, für das die AGEH Fachkräfte entsendet, total überzeugt und froh, da zu sein, wo ich bin. Entwicklungszusammenarbeit mit in Partnerorganisationen integrierten Fachkräften ist das denkbar beste Konzept. Auf diese Weise ergibt sich ein ganz anderer Zugang zu den Menschen am Ort. Wer sonst als Entwicklungshelfer von außen kommt und auch außen vor bleibt, lernt nicht, die Menschen in einem anderen Land zu verstehen. Ich glaube dagegen an diese Form der partnerschaftlichen Zusammenarbeit, wie wir sie praktizieren, weil es primär um Austausch geht. Ich betrachte die Sierra Leoni in meiner Organisation als meine Kollegen. An dieser Stelle ist das AGEH-Partnerkonzept anderen einfach total überlegen. Denn ich empfinde meine Arbeit als Privileg: Menschen einer völlig anderen Kultur und ihre Lebenseinstellungen kennenlernen zu dürfen.

Außerdem habe ich über meinen Einsatz in Sierra Leone auch meine Frau kennengelernt, die damals für die Diözese in Freetown arbeitete. Über sie, die Sierra Leoni ist, habe ich einen Zugang zum Fühlen dieser Menschen bekommen. Heute baue ich selbst dort ein Haus und schätze mich glücklich, noch eine zweite Heimat dazubekommen zu haben. Ich mag das Land und die warmherzigen Menschen dort. Freetown ist schmutzig und laut, aber zugleich hat es Charme und Witz. Wenn man dort über die Straße geht, ist die ganze Welt ein Dorf: Man bekommt immer ein Lächeln geschenkt. Die Menschen schauen dich dabei an. Aber natürlich ist es manchmal auch lustig, an einer Uni, wo ich über Friedens- und Konfliktforschung spreche, der einzige weiße Dozent zu sein. Nein, ein Fremder in Afrika bin ich schon lange nicht mehr.

DOMRADIO.DE: Mittlerweile arbeiten Sie im Rahmen desselben Friedensprogramms in Monrovia, der Hauptstadt Liberias, wo Sie an 27 katholischen Schulen der Erzdiözese verantwortlich für psychosoziale Fortbildungen und Supervision der sogenannten „Deans of students“ – zu Deutsch etwa Dekane oder „Vertrauenslehrern“ – sind. Können Sie hier an Ihre Erfahrungen in Sierra Leone anknüpfen?

Rink: Auch hier lautet mein Auftrag für das „catholic education secretariat“ der Erzdiözese Monrovia psychosoziale Beratung und Traumabewältigung bei der Arbeit mit Grund- und Mittelschulen sowie Gymnasien. Das heißt, ich schule die Deans im Umgang mit Konflikten und biete Mediation an. Liberia befindet sich zurzeit in vielen sozialen Umbrüchen; ein Großteil der Bevölkerung leidet an posttraumatischen Störungen nach zwei Bürgerkriegen. Das spiegelt sich auch in den Familien und damit bei den Schülern wieder, von denen die allerwenigstens noch eine komplette Familie haben. Viele haben massive Gewalterfahrungen hinter sich, brechen die Schule ab, nehmen Drogen und leben in zerbrochenen Familien. Auch Lehrer kennen es oft nicht anders, als den Kindern mit Schlägen zu drohen. Dabei ist ein vertrauensvolles Gespräch viel effektiver. Zuhören ist wichtiger, als mit der Rute da zu stehen. Aber das muss erst einmal vermittelt werden, wenn die Kinder jahrelang etwas anderes erlebt haben. In diesem Land hat kaum eine Aufarbeitung der Kriegserfahrungen stattgefunden. Nach wie vor kreisen die sogenannten Eliten, die das Sagen haben, nur um sich selbst. Es gibt also viel zu tun, und wir bekommen viele positive Rückmeldungen auf diese Art der Friedenspädagogik.

DOMRADIO.DE: Welche drängenden Probleme hat denn das Land noch darüber hinaus?

Rink: Die medizinische Versorgung ist miserabel, und das Land ist durch und durch korrupt. Alles – auch medizinisches Gerät, das es gestern noch gab – wird heute vermisst, weil es unter der Hand verhökert wurde, was das Gesundheitssystem alles andere als vertrauenswürdig macht und eine hohe Sterblichkeitsrate zur Folge hat, weil die Menschen einfach nicht so behandelt werden, wie sie müssten. Anspruch auf eine angemessene Versorgung hat nur, wer dafür entsprechend bezahlen kann. Dabei bin ich davon überzeugt, dass, wenn die Korruption und die Armut ernsthaft bekämpft würden und die Regierung an einer Verbesserung der Lage weiter Teile der Bevölkerung interessiert wäre, so viel möglich wäre in diesem Land. Aber die Armut bindet alle Ressourcen; sie raubt den Menschen ihren Lebenssaft. Als Friedensdienstler halten wir die demokratischen Werte hoch, aber Demokratie müsste von oben verordnet werden. Der Fisch stinkt immer vom Kopf. Trotzdem gibt es auch in Afrika Länder, die es geschafft haben: Ghana zum Beispiel oder Ruanda, sogar Burkina Faso mit seiner sozialistischen Demokratie unter dem 1987 ermordeten Präsidenten Thomas Sankara. Das macht Hoffnung und unseren Dienst unverzichtbar.

DOMRADIO.DE: Sie arbeiten für katholische Schulen. Welche Bedeutung hat denn bei all dem die Kirche in Liberia, einem Land, das zu fast 80 Prozent aus Christen besteht?

Rink: Die sogenannten „Pfingstkirchen“, die aus vielem auch ein Business machen und aus der Frömmigkeit der Menschen Kapital schlagen, haben großen Zulauf und auch großen Einfluss. Auch die Regierungsmitglieder geben sich sehr fromm. In Liberia gibt es keinen Atheismus – nicht wie in Deutschland, wo vielen alles egal ist. Für die Menschen in Afrika generell ist die Kirche wichtig, sie spielt eine entscheidende Rolle. Sie mischt sich in das soziale Leben ein und ist eine Stimme der Gesellschaft, die gehört wird. Von der katholischen Kirche würde ich mir allerdings diesbezüglich mehr Engagement wünschen. Trotzdem: In Afrika sind die Kirchen voll, und daher werden auch immer noch welche gebaut. Da ist es auch ganz normal, dass jeder Workshop, den ich halte, mit einem Gebet beginnt. Das Gebet – ob christlich oder muslimisch – gehört ganz selbstverständlich zum afrikanischen Leben dazu.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.


Manfred Rink arbeitet mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen in Monrovia. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Manfred Rink arbeitet mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen in Monrovia. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

In den katholischen Schulen der Erzdiözese Monrovia arbeitet Manfred Rink eng mit den Dekanen zum Thema Friedensarbeit zusammen. / © Löffke (AGEH)
In den katholischen Schulen der Erzdiözese Monrovia arbeitet Manfred Rink eng mit den Dekanen zum Thema Friedensarbeit zusammen. / © Löffke ( AGEH )

Bei Entwicklungszusammenarbeit geht es immer auch um die Stärkung von Frauenrechten. / © Löffke (AGEH)
Bei Entwicklungszusammenarbeit geht es immer auch um die Stärkung von Frauenrechten. / © Löffke ( AGEH )

Manfred Rink berät die Mitarbeiter seiner Partnerorganisation bei der Traumabewältigung nach zwei Bürgerkriegen. / © Löffke (AGEH)
Manfred Rink berät die Mitarbeiter seiner Partnerorganisation bei der Traumabewältigung nach zwei Bürgerkriegen. / © Löffke ( AGEH )
Quelle:
DR