DOMRADIO.DE: Seit 2012 prangern Sie Arbeits- und Lebensbedingungen vor allem der osteuropäischen Leiharbeiter in den Schlachtbetrieben an. Dafür haben Sie viel Gegenwind erfahren. Jahrelang haben Unternehmer und Politik in trauter Einigkeit weggeschaut. Ist das jetzt eine Genugtuung nach so vielen Jahren für Sie?
Msgr. Peter Kossen (Katholischer Sozialpfarrer): Es ist eine Bestätigung des Anliegens, das ich Gott sei Dank nicht alleine vertreten muss, wo es auch viele andere Kräfte gibt, Menschen, die sich engagieren. Und es ist Rückenwind für dieses Anliegen. Wenn die Landespolitik, wenn der Ministerpräsident sich dieses Anliegen zu eigen macht, bin ich ganz zuversichtlich und hoffe einfach, dass wir auch in der Situation der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten weiterkommen.
DOMRADIO.DE: Weiterkommen unter anderem ja durch das Gesetz, das die Politik jetzt auf den Weg gebracht hat, das die Arbeitsbedingungen in dieser Branche verbessern soll. Sie werden für Ihr Engagement ausgezeichnet. Ist es nicht ein bisschen bitter, dass das alles erst jetzt kommt, nachdem es die Coronaausbrüche in den Schlachtereien gegeben hat?
Kossen: Ja, das ist bitter im Hinblick auf viele Biografien, auf viele Menschen, die in der Zwischenzeit schon im Grunde ihre Gesundheit durch solche Arbeits und Lebensverhältnisse ruiniert haben. Mein Bruder, der Arzt ist und jeden Tag Betroffene in seiner Arztpraxis behandelt, schildert mir das manchmal. Und da ist jede Biografie, jeder Lebenstraum, der da zerplatzt ist, natürlich tragisch. Das Thema hätten Gesellschaft, Politik auch die Kirche früher aufnehmen müssen. Ich hoffe, dass es jetzt tatsächlich zu einem Durchbruch kommt.
DOMRADIO.DE: Das, was Sie schildern, nennen Sie auch moderne Sklaverei. Sie nehmen kein Blatt vor den Mund. Damit haben Sie auch Kritik geerntet, vor allem bei Unternehmern und Politikern. Man hat Ihnen sogar mal in "Mafiamanier" einen Kaninchenkopf als Drohung vor die Tür gelegt. Warum haben Sie trotzdem nie aufgegeben?
Kossen: Es ist die Empörung, die ich immer wieder spüre, wenn ich von sehr konkreten Verhältnissen von Wohnen und Arbeiten und diese Phänomene des Menschenhandels höre oder damit konfrontiert werde. Dann bringt mich das immer wieder auf. Ich denke, jeder einzelne von diesen betroffenen Menschen ist es wert, dass man für sie kämpft. Es betrifft mittlerweile auch Familien, weil Kinder nachgezogen werden. Das darf uns keine Ruhe lassen. Da hat sich noch nicht viel verändert.
Jetzt ist die Aufmerksamkeit da, die Empörung wird von vielen geteilt, die Betroffenheit ist da. Aber Veränderung kann ich bisher noch nicht viel erkennen. Es wird vieles angekündigt, das ist schon mal ein erster Schritt. Aber es muss dann auch realisiert werden, es muss sich niederschlagen.
Ich konnte gestern kurz mit dem Ministerpräsidenten auch über Wohnsituationen reden und ihm noch mal aus meiner Erfahrung berichten. Das sind zunehmend Menschen, die hier bleiben. Das sind eben nicht Spargelstecher und Erdbeerpflücker, die nur drei Monate kommen. Umso mehr muss man dafür tun, dass sie hier so leben und arbeiten können, dass das auch gut geht, dass sie hier wirklich auch Teilhabe in der Gesellschaft erfahren.
DOMRADIO.DE: Nach dem Corona-Ausbruch bei Tönnies hat das Kabinett einen Gesetzentwurf zum Verbot von Werkverträgen in Schlachtbetrieben beschlossen. Ist damit das Problem vom Tisch? Sind Sie zufrieden oder gibt es da noch Schlupflöcher für die Branche?
Kossen: Der Schritt war ganz wichtig und bleibt wichtig als Signal, sodass sich die Landes- und Bundespolitik nicht auf der Nase herumtanzen lässt, zum Beispiel von einer Fleischindustrie oder von anderen Branchen. Das Gesetz muss immer noch vom Gesetzgeber gemacht werden, und es muss dann auch durchgesetzt werden.
Das Verbot ist ein erster wichtiger Schritt. Es müssen weitere Schritte folgen, das betrifft alle Branchen, das betrifft aber auch die Fragestellungen von Integration, von Deutschkursen. Dass man diese Menschen stark macht, dass sie ihre Rechte kennen und selbst auch dafür eintreten. Da ist noch einiges zu tun zum gegenseitigen Wohl.
Auch darüber konnte ich gestern kurz mit dem Ministerpräsidenten sprechen, dass wir das ja eigentlich auch für uns selbst tun. Die Gesellschaft profitiert selbst mächtig von diesen Leuten und sie tut gut daran, in ihnen nicht nur die Billiglöhner und Drecksarbeiter zu sehen, sondern Menschen, die ganz viel hierher mitbringen. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit muss gestaltet werden. Dann ist sie wirklich ein Gewinn für alle Beteiligten.
DOMRADIO.DE: Hat die Kirche bei alledem eigentlich immer hinter Ihnen gestanden? Oder hätten Sie sich auch ein bisschen mehr Rückhalt gewünscht?
Kossen: Ich hätte mir mehr Rückhalt gewünscht. Ich habe immer Leute vorgefunden in der Kirche, die das auch vor mir schon vertreten haben, zum Beispiel in der Katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB), in anderen Verbänden, auch bei Kolping, in den Gemeinden, zum Teil auch in führenden Positionen.
Ich glaube, unsere Kirchen haben da eine deutliche Macht, immer noch auch als Einkaufende in der Beschaffung für Kirchengemeinden, Bildungshäuser, für Altenheime, Krankenhäuser. Wenn wir da bestimmte Kriterien anlegen würden, zum Beispiel von Regionalität und Fairness in der Produktion, dann würde das den Markt verändern. Das vermisse ich bei den Kirchen. Das tun sie bis jetzt erkennbar so jedenfalls nicht. Manchmal braucht es auch eine deutliche Position, dass gesagt wird: "so nicht". Das konnte ich bisher - jedenfalls im großen Stil - bei unseren Kirchen leider nicht erkennen.
Das Interview führte Katharina Geiger.