DOMRADIO.DE: Luigi Ciotti gilt gleichzeitig als "bekanntester" und "am meisten gefährdeter" (Laut Thomas Migge: Cappuccino nur nach Voranmeldung. In: Schwäbische Zeitung, 22. November 2014, Anm. r. Red.) Geistlicher Italiens. Welchen Ort haben Sie sich denn für das Treffen ausgesucht?
Dorette Deutsch (Journalistin und Publizistin): Ich habe ihn in Turin getroffen. Das ist eigentlich sein Hauptwohnsitz. Ich denke aber, er ist das ganze Jahr unterwegs und im Grunde genommen weiß niemand so genau, wo er eigentlich wohnt.
Er hat sein Büro in Turin. Man muss es sich so vorstellen, dass es etwas am Stadtrand gelegt ist, in einem aufgegebenen Fiatwerk, was Ex-Fiat-Chef Giovanni Agnelli Don Luigi verschenkt hat. Und dort sind unten Büros drin. Es gibt dort zum Beispiel auch Kurse für Migrantinnen und es gibt ein Geschäft mit den Produkten von Libera Terra, dazu später nochmal mehr.
Aber im oberen Stockwerk sind zurzeit Büros untergebracht. Ich muss sagen, für mich war es auch sehr aufregend, weil ich noch nie davor einen Menschen und schon gar keinen Geistlichen getroffen habe, der 24 Stunden am Tag unter Polizeischutz steht.
DOMRADIO.DE: Das heißt, auch bei dem Treffen waren die Polizisten dabei?
Deutsch: Die Polizei war im Nebenraum. Die sind natürlich auch in Zivil. Aber ich muss sagen, das Gefühl hat mich allein sehr beeindruckt. Und ich habe ihn auch gefragt: Wie ist es denn, wenn man immer mit Polizeischutz leben muss? Und er sagte dann: Ja, er bangt schon immer wieder auch um das Leben seiner Begleiter.
DOMRADIO.DE: Aber er steht hinter seiner Sache, die er da macht. Was ist das Besondere, was er tut?
Deutsch: Das Besondere ist, dass er in seinem früheren Verein in den 80er und 90er Jahren, als die Mafia sehr viele Attentate verübt hat, gesagt hat, das dies nicht so weitergehen könne. Nicht nur die italienische Gesellschaft ist damals erschüttert worden und es brauchte auch eine gesellschaftliche Antwort. Und so entstand der Verein Libera. Libera heißt wörtlich frei.
Das Tolle an Libera ist, dass es ihn in allen Städten gibt. Es gibt beispielsweise Gruppen, die in Schulen gehen und aufklären, und zwar nicht nur über das, was die Mafia tut, sondern genauso über Bürgerrechte, über zivile Verantwortung. Das fängt teilweise schon bei Kindern, die zehn bis zwölf Jahre alt sind. Ich war dabei und das ist sehr, sehr bewegend.
Man meisten gefällt mir daran, dass es eine ganz breite Bürgerbewegung in Italien ist. Es sind also nicht nur Privatpersonen Mitglieder von Libera, sondern genauso die Gewerkschaften, die italienische Bischofskonferenz, es sind Schulen dabei, also das ganze Spektrum von bürgerschaftlichem Engagement.
DOMRADIO.DE: Luigi Ciotti ist inzwischen 75 Jahre alt. Gegen die Mafia kämpft er schon lange. Wie hat das für ihn angefangen?
Deutsch: Angefangen hat es für ihn damit, dass er die Gesellschaft quasi wachrütteln wollte. Das ist ihm auch durch diese breite Verankerung in der italienischen Gesellschaft gelungen. Es gibt in jeder Stadt inzwischen Libera-Gruppen.
Unser Interview passt jetzt auch gerade zeitlich, denn am Frühlingsbeginn am 21. März ist der nationale Erinnerungstag an die unschuldigen Opfer der Mafia. Es wird in meinem Wohnort Genua am Samstag eine Lesung der Mafiaopfer geben. Ich bin auch dabei.
Es ist einfach sehr beeindruckend, wie das immer weitere Kreise zieht. Inzwischen gibt es auch Observatorien in jeder Stadt, meistens in Zusammenarbeit mit der Universität. Da beobachtet man einfach, was die Mafia plant. Dort kann man auch beobachten, wo sie wieder Raum greift. Meistens ist es so, dass die mafiösen Vereinigungen in den Kommunen Raum greifen, über die Ausschreibungen für die Abfallentsorgung.
DOMRADIO.DE: Der Verein Libera bietet auch Ferien auf dem Bauernhof in Häusern, die früher im Besitz von Mafia-Bossen waren. Warum ist das ein Fortschritt im Kampf gegen die Mafia, auf den Don Ciotti stolz sein kann.
Deutsch: Es gibt seit Anfang der 90er Jahre ein Gesetz in Italien. Dazu hat auch Libera durch eine Petition beigetragen, dass man zum Beispiel sowohl Häuser als auch Barvermögen wie auch Landgüter von verurteilten Mafia-Mitgliedern für soziale Zwecke nutzen kann. Das heißt, dass die verschiedenen Gruppen sich da bewerben müssen. Libera hat es auch gemacht. Es gibt zum Beispiel in Turin ein Frauenhaus. Es gibt Kindergärten, es gibt Häuser für alte Menschen.
Und auf Sizilien, ausgerechnet in Corleone, dem Geburtsort eines Obermafioso, der inzwischen verstorben ist, hat man es tatsächlich geschafft, ein Landgut mit Bio-Anbau und Ferien auf dem Bauernhof einzurichten. Es heißt, dass der Mafia-Boss in seiner Zelle getobt hat. Das ist natürlich eine ganz klare Ohrfeige gegen die Mafia, die sehr sichtbar ist in der Gesellschaft.
Damit entzieht man der Mafia auch Macht. Denn wenn sie ihre Söldner nicht bezahlen kann, dann wird sie natürlich auch in ihrer Macht zurückgedrängt.
Das Interview führte Dagmar Peters.