Der Syrer Mohamed Diyab ist in großer Sorge um seine Schwester und ihre fünf Kinder. Von der südtürkischen Millionenstadt Gaziantep aus telefoniert er, soweit es geht, alle paar Tage mit seinen Verwandten, die in der umkämpften nordsyrischen Provinz Idlib festsitzen. "Ihre Situation ist schrecklich", klagt der 33-Jährige, der vor sieben Jahren in die Türkei geflohen ist. "Die humanitäre Hilfe ist sehr eingeschränkt. Sie sagen, dass sie zurzeit nichts erhalten. Jetzt bin ich der einzige, der helfen kann." Soweit es geht, versucht Diyab, ihnen etwas Geld zu überweisen.
Die Deutsche Welthungerhilfe weiß um die Not. Die Hilfsorganisation mit Sitz in Bonn versorgt mit rund 200 Mitarbeitern seit sechs Jahren syrische Flüchtlinge in der Türkei. Vom Hauptsitz in Gaziantep aus organisiert sie auch humanitäre Hilfe für die etwa 150 Kilometer südlich davon liegende Region Idlib. "Der Südwesten von Idlib wird seit Anfang Mai verstärkt vom syrischen Regime mit Unterstützung von der russischen Luftwaffe angegriffen", sagt Programmkoordinator Lennart Lehmann. Es würden Oppositionsmilizen bombardiert, aber auch Dörfer, Weizenfelder, Schulen und Krankenhäuser.
"Vor unseren Augen entfaltet sich ein humanitäres Desaster"
In den vergangenen sechs Wochen wurden laut den Vereinten Nationen in Idlib mehr als 230 Zivilisten getötet, darunter 69 Frauen und 81 Kinder. Mehrere Hundert seien verletzt worden. "Vor unseren Augen entfaltet sich ein humanitäres Desaster", klagte UN-Nothilfekoordinator Mark Lowcock am Dienstag im Weltsicherheitsrat in New York. 330.000 Menschen mussten laut UN in den Norden und in Richtung türkische Grenze fliehen. Die Lager dort sind überfüllt. Viele Menschen müssen im Freien schlafen, anderen drängen sich aus Angst vor den Bomben in Kellern. Ernten sind verbrannt.
Die Luftwaffe des syrische Diktators Baschar al-Assad und russische Flieger attackieren den Raum Idlib und angrenzende Gebiete vor allem, weil sich dort Zehntausende Kämpfer des islamitischen Bündnis Hajat Tahrir al-Scham verschanzt haben, die aus der Nusra-Front, dem früheren Al-Kaida-Ableger in Syrien hervorging. Idlib ist mit derzeit rund drei Millionen Menschen eine der letzten großen Regionen, die nicht an Assad zurückgefallen ist.
Welthungerhilfe versucht mit syrischen Partnern zu helfen
Trotz der schwierigen Lage versucht die Welthungerhilfe, mit syrischen Partnern zu helfen. "Wir organisieren Nahrungsmittel, Gutscheine, Hygieneartikel oder Mehl für Bäckereien", berichtet Lehmann. Gekauft würden die Waren, soweit sie nicht in Syrien verfügbar sind, in der Türkei. Dann würden sie mit Hilfe des türkischen Roten Halbmonds an einen "Point Zero" im Niemandsland zwischen türkischen und syrischen Grenzposten gebracht. Dort werde alles auf syrische Lastwagen umgeladen. Selbst ist die Welthungerhilfe nicht vor Ort. Aber man kooperiere mit Helfern, die genau belegen müssten, wo die Hilfe in Idlib hingeht, sagt Lehmann.
Auch Wasserleitungen und Toiletten würden mit Hilfe von syrischen Handwerkern installiert. Alles sei natürlich äußerst gefährlich. Denn die Lage sei kompliziert, sagt Lehmann. Zum einen gebe es die Kämpfe zwischen dem Regime und Milizenbündnis. Zum anderen müssten die Helfer viele Flüchtlinge erst einmal finden. "Und ein weiteres großes Problem ist für Hilfsorganisationen, dass die Oppositionsgebiete von Milizen kontrolliert werden, die international als terroristische Gruppen erachtet werden. Da müssen wir sicherstellen, dass unsere Partner gefahrlos agieren können und dass nicht eine einzige Hilfslieferung in die Hände dieser Gruppen gerät."
Humantiäre Helfer riskieren ihr Leben
Nach Angaben der Welthungerhilfe machte das UN-Nothilfebüro den Milizen gegenüber deutlich, dass humanitäre Hilfe an die Bedürftigen weitergereicht werden muss. "Das hat anscheinend insofern funktioniert, dass die terroristischen Organisationen kein Interesse daran haben, dass die Hilfsorganisationen die Unterstützung für die notleidende Bevölkerung einstellen", sagt Lehmann. Die Situation bleibe aber weiter sehr unsicher. UN-Nothilfekoordinator Lowcock sagte: "Die UN und mutige humanitäre Helfer riskieren ihr Leben, um anderen zu helfen."
2019 plant die Welthungerhilfe rund neun Millionen Euro für die Hilfe in Idlib ein. Doch die internationale Gemeinschaft müsse endlich eine politische Lösung für die Konflikte in Syrien finden, betont die Organisation. Das hofft auch der Syrer Diyab in Gaziantep. Dann will er für sich und die Familie seiner Schwester irgendwo in der Welt eine neue Heimat suchen: "Nach Syrien werde ich nie wieder zurückgehen."