Drei Tische sind in dem Raum vom Kinder- und Jugendtreff aufgestellt, an jedem wird gebastelt. Elaine, fast 14 Jahre alt, malt gerade einen Hasen auf ein Glasgefäß.
Es soll eine Vase werden. Die gelben und roten Rosen zum Befüllen hat Treff-Leiter Daniel Becker schon mitgebracht. "Ist der Hase ganz braun?", fragt Elaine eine Übungsleiterin und schaut sie mit großen, geschminkten Augen an. Später malt sie dem Hasen noch einen weißen Bauch.
Am Nebentisch sitzt Paul in seinem Rollstuhl, den Speichenschutz zieren rote Ferraris. Die Begeisterung des Grundschülers ist ansteckend, etwa für die Kamera des Fotografen. Immer wieder schaut Paul sich um, bis er ihn neu entdeckt hat.
Als der Fotograf einmal in die Knie geht, um mit ausgefahrenem Objektiv auf Augenhöhe ein Bild zu schießen, klatscht Paul in die Hände, lacht und zeigt auf ihn. Seine Freude ist mitreißend, auch ohne Worte.
Kinder- und Jugendtreff gehört zum Sankt Vincenzstift
Der Kinder- und Jugendtreff (KiJu) gehört zum Sankt Vincenzstift in Rüdesheim-Aulhausen im hessischen Rheingau, mitten im Weinanbaugebiet. Hier leben mehrere Hundert Menschen mit Behinderungen - der jüngste ist zwei Jahre alt, der älteste 85 Jahre.
Sie gehen auf dem weitläufigen Gelände in den Kindergarten oder in die Schule, wohnen und leben hier - oder arbeiten. Zum Beispiel in einer hauseigenen Wäscherei, in Werkstätten auf dem Gelände, im Dorfladen und auch auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt: So gibt es laut Stift einige Menschen mit Behinderungen, die als reguläre Kräfte im nahen Klostercafe der Benediktinerinnenabtei Sankt Hildegard tätig sind.
Die "Woche für das Leben"
Am 13. April soll im Vincenzstift die "Woche für das Leben" eröffnet werden, eine gemeinsame Aktion der katholischen und evangelischen Kirche. Sie wollen damit einen "Beitrag zur Bewusstseinsbildung für den Wert und die Würde des menschlichen Lebens" leisten, wie es etwas umständlich auf der Website heißt.
Dieses Jahr lautet das Motto "Generation Z(ukunft): Gemeinsam. Verschieden. Gut". Es soll die Lebenswirklichkeiten Jugendlicher und junger Erwachsener mit Behinderungen in den Mittelpunkt stellen.
Das Bistum Limburg, in dessen Bezirk auch das Stift liegt, lädt ein. Beide Kirchen erklären, dass das Stift als Eröffnungsort ausgewählt wurde, weil es das Leben von Menschen mit Behinderung eben in ganz besonderer Weise präge.
"Wir repräsentieren die Geschichte der Eingliederungshilfe"
Caspar Söling, Sprecher der Geschäftsführung des Vincenzstifts, fällt noch ein anderer Grund ein: "Wir repräsentieren die Geschichte der ganzen Eingliederungshilfe: von der Fürsorge zu Beginn zum Anstaltsparadigma über das sonderpädagogische Zentrum bis zur Inklusion heute."
Der Geschäftsführer ergänzt gleich, dass dazu auch die "Tiefen" gehörten: Im Stift gab es zwischen 1945 und 1970 zahlreiche Fälle von Missbrauch bei den Heimkindern. "Noch heute melden sich Menschen, die uns davon berichten", sagt Söling. Er war der erste, der Anfang der 2010er Jahre konsequent und auch gegen Widerstände anfing, aufzuarbeiten und es bis heute tut, heißt es in Rüdesheim.
Die "Eintrittskarte" in das Stift, das 1885 zunächst für Waisenkinder gegründet wurde, sich aber schon 1893 für behinderte Menschen öffnete, ist eine geistige Behinderung. Die heutigen Bewohnerinnen und Bewohner haben häufig eine Mehrfachbehinderung, sind zum Beispiel auch körperlich eingeschränkt. Manchen merkt man ihre Behinderung auf den ersten Blick hingegen gar nicht an.
So wie Ali, mit einer großen Brille auf der Nase, der heute eine Vase für seine Mutter bastelt. "Die hat im Mai Geburtstag", erklärt er. Als er mit seiner ersten Vase fertig ist - er hat kräftig Salzteig um das Glas gewickelt und Glassteine angedrückt - zeigt der Neunjährige sie seinem Kumpel: "Pauli, alles gut? Schau mal, mein Glas!" Paul macht deutlich, dass er jetzt auch unbedingt mit Salzteig basteln will. Gemeinsam mit Treff-Leiter Becker rührt er eine neue Portion an.
Andere Arten der Behinderung
Söling berichtet später, dass es für die "typischen Trisomie-21-Kinder" kaum noch Anfragen gebe. Das liege an der Pränataldiagnostik, die Schwangere wissen lässt, ob ihr Kind diese genetische Veränderung habe oder nicht. "Und an den Abtreibungen", sagt Söling. Die Anmeldezahlen des Stifts gehen aber nicht zurück, denn statt weniger gebe es jetzt andere Arten der Behinderung wie Verhaltensauffälligkeiten.
Darunter verstehe man etwa auto- oder fremdaggressives Verhalten: sich selbst kratzen, bis es blutet, andere schlagen, Dinge kaputt machen. Eine andere Form sei der totale Rückzug, ein Sichverschließen.
Söling berichtet von einer Dame, die vor kurzem angerufen habe, weil ihre Tochter zweimal innerhalb kürzester Zeit das ganze Wohnzimmer auseinander genommen habe. Eltern kämen massiv an ihre Grenzen. "Das stellt auch ganz andere Anforderungen an die Inklusion", so der Geschäftsführer.
Fehlende Bindung
Woran es liegt, dass Verhaltensauffälligkeiten in den vergangenen Jahren so stark zugenommen haben, kann Söling nur vermuten. Den Trend stellt er aber zweifelsfrei fest. "Es wird mehrere Gründe haben, die nicht unbedingt eindeutig sind." Ein ganz wichtiges Thema sei aber die fehlende Bindung. Als Beispiel nennt Söling Frühgeburten.
Dass Kinder zu früh auf die Welt kommen, geschieht in den vergangenen Jahren häufiger. Ein Grund ist offenbar, dass Mütter im Durchschnitt immer älter werden und dadurch das Risiko für Frühgeburten steigt. Zugleich überleben auch dank der medizinischen Entwicklung mehr Kinder, die deutlich zu früh auf die Welt kommen.
Einigen Frühgeborenen fehle es dann an Bindung zur Mutter oder beiden Elternteilen, was sich später in ihrem Verhalten niederschlagen kann. Eine emotionale Überforderung der Eltern oder Alkoholkonsum könnten andere Gründe für Verhaltensstörungen sein, sagt Söling.
Kontakt zu Gleichaltrigen
Im KiJu-Treff des Stifts sollen Kinder und Jugendliche in Kontakt zu Gleichaltrigen kommen, erklärt Abteilungsleiterin Heidelore Huth. Dafür denkt sich Treff-Leiter Becker jede Woche neue Beschäftigungen aus. Nichts aber ist so beliebt wie die Disco.
"Die könnte ich jede Woche anbieten, und es wäre immer voll". Auch Elaine erklärt sehr bestimmt, dass ihr die Disco am besten gefalle. Deswegen besucht sie sowohl die Disco für Kinder als auch die für Jugendliche. Ali zeigt sich ebenfalls als Fan der Partys, aber zu tanzen traue er sich nicht. "Dann lachen die anderen mich aus."
Der Treff wird fast ausschließlich von denen besucht, die im Stift wohnen. "Wir machen noch keine große Werbung für unser Programm", begründet Huth. Anders sieht das freitags aus. Da findet ein "Offener Treff" statt, zu dem auch nicht-behinderte Kinder aus dem Dorf kämen.
"Sie kommen rein, spielen und gehen wieder. Es ist für sie total klar, dass sie hier willkommen sind", freut sich Becker. Die Kinder spielten etwa gemeinsam an der Spielkonsole. "Unsere Bewohner spielen nicht schlechter Switch als Nicht-Behinderte", betont der Freizeit- und Erlebnispädagoge.
Seit 2012 besuchen auch nicht-behinderte Schüler die inklusive Grundschule
Wie wird Inklusion gelebt, wenn doch alle, die auf diesem außerhalb gelegenen Gelände wohnen, behindert sind? "Wir gehen raus und holen rein", beschreibt Geschäftsführer Söling das Konzept. Seit 2012 besuchen etwa auch nicht-behinderte Schüler die inklusive Grundschule auf dem Gelände; in den vergangenen 16 Jahren seien zahlreiche Angebote für Betreutes Wohnen sowie dezentrale Wohnangebote im ganz normalen städtischen Umfeld entstanden. Eine solche Wohneinrichtung für behinderte Menschen entstehe aktuell etwa in Frankfurt.
Er sei Freund einer "menschlichen Inklusion" und Kritiker einer Inklusion, die so verstanden werde, dass behinderte Menschen statistisch gesehen gleich über einen Landkreis verteilt sein müssten, sagt Söling. Das Stift biete Menschen mit Behinderungen einen Lebensraum und Freiheiten, die sie in größeren Dörfern oder Städten nicht hätten - weil sie sich zum Beispiel nicht verkehrssicher bewegten. "Hier können sie sich entfalten", betont er.
Im KiJu-Treff geht nach anderthalb Stunden das Bastel-Programm zu Ende. Die Kinder suchen sich Rosen aus, Ali will eine rote, ein anderes Kind gleich drei - "die müssten in meine Vase passen". Kind für Kind verlässt den Treff, die Übungsleiter und Pädagogen räumen geübt und schnell auf. Bald ist auch wieder Disco.