Als Kehrtwende kann man wohl bezeichnen, was der Innenminister des indischen Bundesstaats Karnataka, G. Parameshwara, am Donnerstag machte. "Ich wurde falsch zitiert", sagte er auf einer Pressekonferenz. "Der Vorfall bereitet mir großen Schmerz. Die Polizei arbeitet an dem Fall." Hintergrund sind Diskussionen um die Silvesternacht in der indischen IT-Metropole Bangalore, der Hauptstadt von Karnataka. Die Debatte erinnert in Teilen an das, was in Deutschland nach der Kölner Silvesternacht 2015/16 passierte.
Massenweise sexuelle Belästigungen
Einen Tag nach den Neujahrsfeiern begannen lokale Medien zu berichten, dass Frauen in der Silvesternacht massenweise auf offener Straße sexuell belästigt worden seien. Die Polizei meldete jedoch, es habe keine einzige Anzeige wegen sexueller Übergriffe gegeben.
Minister Parameshwara wurde von zahlreichen Medien zitiert, dass "solche Dinge eben passieren". Demnach kritisierte er nicht die vermuteten Taten, sondern die jungen Frauen Indiens dafür, dass sie einen zu westlichen Lebensstil hätten. Die Äußerungen sorgten für einen Aufschrei. "Die Nacht der Schande von Bangalore" hat sich in Zeitungen und Fernsehsendern des Landes als Oberbegriff für den Jahreswechsel auf 2017 etabliert.
Fernsehsender begannen, ein Video zu zeigen, auf dem eine Frau von mehreren Männern mit einem Motorroller verfolgt, festgehalten und auf den Boden geworfen wird. Minister Parameshwara wurde öffentlich für seine frauenfeindlichen Äußerungen kritisiert, auch von hochrangigen Beamten der Zentralregierung in Neu Delhi.
Polizei wertet Video-Aufnahmen aus
Inzwischen hat die Polizei in Bangalore vier Verdächtige im Zusammenhang mit dem Video vom Motorroller-Überfall festgenommen und sondiert nach eigener Aussage die Aufnahmen von mehr als 40 Überwachungskameras, um weitere Fälle aufzudecken. Bisher habe sich dort allerdings kein einziger Hinweis auf sexuelle Übergriffe gefunden, hieß es mehrere Tage nach Silvester.
Auch Anzeigen von betroffenen Frauen gebe es noch nicht, trotz Aufforderung, sich bei der Polizei zu melden. Auf der anderen Seite stehen Augenzeugen, die in der lokalen Zeitung "Bangalore Mirror" von genau solchen Übergriffen berichten.
Obwohl also weiterhin unklar ist, was genau in der Silvesternacht passiert ist, wirft die Diskussion doch ein Schlaglicht auf zwei Dinge: Erstens unterstreicht sie erneut, dass Frauen in Indien noch an vielen Fronten um ihre Rechte kämpfen müssen. Das beginnt schon vor der Geburt. Im Jahr 2014 wurden laut offiziellen Zahlen pro 1000 neugeborenen Jungen nur 887 Mädchen zur Welt gebracht. Denn immer noch werden weibliche Föten in Indien gezielt abgetrieben, weil sie oft eine höhere finanzielle Belastung bedeuten als Söhne.
Die Kriminalitätsstatistik zeigt zudem, dass Vergewaltigungen fast immer von Tätern begangen werden, die dem Opfer bekannt sind. Auch deshalb wird die Dunkelziffer bei Gewalt gegen Frauen als besonders hoch eingeschätzt. Die Familien halten die Fälle geheim, weil sie um ihren Ruf fürchten.
Gesellschaftliche Debatte angestoßen
Die große Aufmerksamkeit belegt zweitens aber auch, dass es in Indien durchaus eine gesellschaftliche Debatte zu diesen Themen gibt. "Frauen kommen langsam aus der Scham-Ecke heraus", sagt Jyoti Atwal, die an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der bekannten Universität JNU in Neu Delhi lehrt. Tatsächlich ist in den vergangenen Jahren die Zahl der Anzeigen wegen Vergewaltigung in Indien deutlich gestiegen, was darauf hindeutet, dass mehr Frauen sich trauen, diesen Weg zu gehen.
Die Strafen für Vergewaltigungen wurden deutlich verschärft, nachdem das Land im Dezember 2012 von einem besonders schweren Fall erschüttert worden war. Damals wurde eine 23-jährige Studentin in Neu Delhi so brutal misshandelt, dass sie zwei Wochen später ihren Verletzungen erlag. "Früher haben wir darüber geredet, dass Gewalt gegen Frauen ein gesellschaftliches Problem ist", sagt Atwal. "Heute nennen wir es das, was es ist: ein Verbrechen."
Für Bangalore hat Minister Parameshwara nun Reformen versprochen. Mehr Straßenlaternen, mehr Überwachungskameras und mehr Notfalltelefone sollen Frauen helfen, sich in der Stadt wieder sicher zu fühlen. "Bangalore ist eine moderne Stadt", sagte er nun. "Wir werden sie sicherer machen."