Ingeborg Strauss wohnt seit 1954 in der Wohnung in Frankfurt

Wo vor 80 Jahren Anne Franks Leben begann

"Meine Schwester Margot wurde 1926 in Frankfurt am Main geboren", schreibt Anne Frank in ihrem Tagebuch. "Am 12. Juni 1929 folgte ich." Da der Besitzer des Hauses im Marbachweg NSDAP-Mitglied war, bezog die jüdische Familie Ende 1931 ein neues Domizil in der nahe gelegenen Ganghoferstraße. Seit 55 Jahren lebt Ingeborg Strauss in der Wohnung im Frankfurter Marbachweg 307, wo Anne Frank die ersten zweieinhalb Jahre ihres Lebens verbrachte.

Autor/in:
Stefan Höhle
 (DR)

"Als ich mit meinem Mann einzog, wusste ich das nicht", erzählt die 78-Jährige. "Wir hörten es vom Hausbesitzersohn im Erdgeschoss, der als Kind mit Anne gespielt hatte." Die Familie Otto und Edith Frank hatte mit ihren Töchtern Anne und Margot in dem Bürgerhaus in Frankfurt-Dornbusch die Vierzimmerwohnung im ersten Stock gemietet. "Die Badewanne, in der Anne geplanscht hat, benutze ich noch heute", sagt die alte Dame.

"Meine Schwester Margot wurde 1926 in Frankfurt am Main geboren", schreibt Anne Frank in ihrem Tagebuch. "Am 12. Juni 1929 folgte ich." Da der Besitzer des Hauses im Marbachweg NSDAP-Mitglied war, bezog die jüdische Familie Ende 1931 ein neues Domizil in der nahe gelegenen Ganghoferstraße. Nach der Flucht nach Amsterdam 1934 erinnerte sich Annes Mutter: "Für uns waren die Jahre im Marbachweg mit die schönsten." Der Frankfurter Ortsteil Dornbusch lag früher am grünen Stadtrand, berichtet Ingeborg Strauss.

Die 78-Jährige holt Fotografien hervor, Abzüge, die ihr das Frankfurter Historische Museum überlassen hat. Sie zeigen die kleine Anne mit ihrer Schwester auf dem Balkon der Marbachweg-Wohnung. Die jetzige Bewohnerin öffnet die Tür zur Loggia hinaus. Sie sitze gern dort und schaue in den Garten hinunter. "Ich kann Annes Mutter verstehen." Dann tritt sie an die Fenster zur Straßenseite. "Es gibt Fotos von Anne, wie sie unter der Birke im Vorgarten spielt."

"Die Franks wohnten hier an der Haltestelle"
1954 sei noch die Straßenbahn durch die Straße gefahren, erzählt die alte Dame. "Die Franks wohnten hier an der Haltestelle, auch ich habe immer das Bimmeln der Tram gehört." 1960 habe sich ein "Collegegirl" aus den USA bei ihr gemeldet, eine Literaturstudentin, die über Anne Frank geforscht habe. Sie sei sehr interessiert gewesen "und stand eines Tages doch tatsächlich vor meiner Tür". An die ersten überraschten Worte der jungen Frau kann sich Ingeborg Strauss erinnern. "Die Birke steht ja noch", habe die Studentin froh bemerkt.

"Viele Frankfurter wollten sich damals nicht gern auf Anne Frank ansprechen lassen", erinnert sich die in Oberschlesien geborene 78-Jährige. Sie habe auf diese Befindlichkeit keine Rücksicht genommen. "Ich habe als Kind in meiner schlesischen Heimat die Synagogen brennen sehen. Das Gleiche geschah in Frankfurt." Besonders mit Jugendlichen unterhalte sie sich bis heute oft über die Zeit. "Es gibt Grund zum Nachdenken", sagt sie. "Und zum Rebellieren", fügt sie hinzu. "Erst reflektieren, dann rebellieren", fasst die engagierte alte Dame zusammen.

Anne Frank starb im März 1945 im KZ Bergen-Belsen
Dann wird sie sanfter. "Es hat mich vor 55 Jahren eben berührt, unverhofft die Wohnung der Familie Frank gemietet zu haben." Sie habe dem Hausbesitzersohn, einem jungen Architekten, gern zugehört, wenn er aus seiner Kindheit erzählt habe. "Er war ein paar Jahre älter als Anne, hat im Garten mit ihr gespielt und auf sie aufgepasst." Nach dem Wegzug der Familie habe er das kleine Mädchen vermisst. "Wie er über Anne sprach, habe ich noch im Ohr", erzählt Ingeborg Strauss. "Er hat Anne oft beschrieben. Als liebenswert, fröhlich und verspielt."

Auch in Frankfurt, das 1933 mit etwa 28 000 Gläubigen nach Berlin die zweitgrößte jüdische Gemeinde Deutschlands hatte, brannten 1938 die Synagogen. Die Grabmäler des jüdischen Friedhofs hatten die Nationalsozialisten zu Schotter zermalen lassen, um selbst diese Zeugnisse jüdischen Lebens zu tilgen. Nach Kriegsende lebten in der Stadt noch rund 100 Juden, Anne Frank starb im März 1945 im KZ Bergen-Belsen. Dass die Erinnerung an sie und andere jüdische Bürger lebendig bleibt, ist auch Menschen wie Ingeborg Strauss zu verdanken.