Hayder Tarkan hat sein Herz verloren. In einer kalten Nacht, im Januar 2015, ist es passiert, als der junge Iraker zum ersten Mal den Hauptbahnhof in Köln erreichte. "Das erste, was ich gesehen habe, war der Dom und da wusste ich, dass ich Glück gehabt habe, in dieser schönen Stadt angekommen zu sein", erinnert er sich und lacht.
Seitdem ist er so oft hier, wie er kann. "Der Dom ist wie mein Haus", prahlt er und beginnt, die Geschichte der Kathedrale zu erzählen. Auch wenn sein Deutsch an manchen Stellen noch etwas hakt, redet er munter drauf los. "Ich muss sprechen", erklärt er. "Egal wie gut oder schlecht mein Deutsch ist, es muss raus, ich muss es sagen."
Dazu nutzt er jede Gelegenheit. Einmal, als er erst ein paar Deutschstunden genommen hatte, und nur wenige Sätze sprechen konnte, hat er einen Mann an einer Bushaltestelle gesehen. Wie selbstverständlich ist er hingegangen um sein Deutsch auszuprobieren. "'Hallo!', habe ich gesagt." Und dann: "'Wie geht’s Deiner Mutter?'"
Deutsch sprechen gegen Garten- und Heimarbeit
Ein paar Monate später hat der Iraker eine andere, eher ungewöhnliche, Initiative ergriffen: Er hat an fremde Türen geklopft und angeboten, fremde Rasen zu mähen oder fremdes Geschirr zu spülen. Im Gegenzug wollte er sich mit seinen Auftraggebern auf Deutsch unterhalten. Das hat geklappt.
Seitdem ist er gut vernetzt in seiner neuen Heimatstadt Pulheim, bei Köln. Er hat mittlerweile auch einen festen Job als Physiotherapeut, zahlt Wohnung und Versicherung selbst und hat Freunde gefunden.
Heimatgefühl, mitten in der Fremde
Hayder fühlt sich zu Hause in Köln. Und in Deutschland. "Mein Land", sagt er, der noch nicht einmal eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland hat. Trotzdem: "Deutschland ist mein Vaterland." Dann wird Hayder ernst. Denn er ist auch ein Fremder. Im Irak nämlich, "weil ich keine Familie habe."
Grundsätzlich hat er schon eine Familie im Irak. Sie leben in Babylon; seine Mutter und seine Brüder. Der Vater ist vor Jahren gestorben. "Meine Brüder sind sehr muslimisch", beginnt Hayder. Das wurde ihm irgendwann zum Verhängnis. Denn Hayders große Leidenschaft ist die Musik. Er singt, spielt Laute und ist im Irak schon ein paar Mal als Sänger im Fernsehen aufgetreten. Zu Hause gab es dafür Ärger. In den Augen der Familie darf er nicht singen. Das geziehmt sich nicht für einen Muslim; schon gar nicht, während sich seine Glaubensbrüder im Krieg befinden.
"Komm nicht zurück"
Manchmal haben seine Brüder Hayders Instrumente kaputt gemacht, erzählt er. Wenn er von seiner Familie redet, wird seine Stimme langsamer, das schnelle Sprechen ohne Punkt und Komma ist vorbei.
Hayder war damals oft in Bagdad unterwegs, denn dort gab es Fernseh-Studios und Bars, in denen er auftreten konnte. Eines Tages rief ihn ein Freund an: "Komm nicht zurück, wenn Dir Dein Leben lieb ist", warnte er. Ohne Abschied, ohne einen letzten Gruß ist er abgehauen. Zuerst in die Türkei, dann in einem Schlauchboot übers Meer nach Griechenland. Von dort aus ging es zu Fuß bis Österreich. Dann München. Dann Köln. "Das sah auf der Landkarte so lustig aus", jetzt lacht er wieder. "So ein kleines Wort und dann noch mit einem O und zwei Punkten darauf!" "Köln" gefiel ihm.
Immer auf der Suche
Seit zehn Jahren sucht Hayder. Wenn man ihn fragt, wonach, dann antwortet er mit großen Gesten und noch größeren Worten. "Ich suche nach dem Leben, dem Sinn, der Liebe, dem Glück und der Religion, nach Gott und nach Musik."
Auf der Suche nach Gott hat er Bibel und Koran gelesen. "Was in der Bibel steht, macht mehr Sinn", sagt er und fügt ohne Atempause eine Begründung hinzu: "Warum hat Gott uns so eine schöne Welt gegeben und will dann, dass wir gegeneinander kämpfen?" Das haben ihm seine Brüder so gesagt. "Wie kann ein Mann mehrere Frauen haben, wenn Gott ihm nur ein Herz gegeben hat?", fragt er weiter. "Wenn Jesus im Koran nicht wie ein Mensch gestorben ist, sondern von Gott in den Himmel geholt wurde - wieso soll er dann nur ein Prophet sein?"
Hayder - das bedeutet Löwe
Fragen wie diese haben ihm die Wut seiner Brüder beschert. Selbst seine Mutter hat sich von ihm abgewendet. "Du bist nicht mehr mein Sohn", hat sie gesagt. "Aber sie hat das nicht so gemeint", spricht Hayder leise. "Sie liebt mich, denn sie ist meine Mutter", davon ist er überzeugt. Sie ist es, die er am meisten vermisst. Aber Kontakt aufnehmen ist fast unmöglich.
Manchmal hilft ihm ein Freund aus Babylon. Wenn der bei Hayders Familie ist, ruft er ihn an und legt sein Handy so hin, dass Hayder mithören kann, was im Haus seiner Familie passiert, während seine Mutter oder Brüder nicht mitbekommen, dass Hayder mitten unter ihnen ist. Solche Telefonschalten machen ihn oft traurig. Er weint dann und schreibt Verse für seine Mutter, die seine jugendliche Poesie wahrscheinlich niemals bemerken wird. "Lass mich nicht mehr weinen, lass mich wieder scheinen, lass mich bei Dir sein."
Herz für Köln
Trost findet Hayder in der Musik. Er will Sänger werden und in Deutschland auftreten. Auf Deutsch natürlich. Sein erstes Stück hat er der Stadt Köln gewidmet. In "Herz für Köln" singt er von Liebe und Toleranz, Respekt und einem neuen Start in Deutschland.
"Ich muss weiter machen, ich muss mit dem Leben kämpfen", sagt er. Hayder ist diszipliniert; sein Tagesablauf ist durchstrukturiert: Er steht früh auf, macht eine halbe Stunde Sport und geht dann arbeiten. Freitags singt er abends in einer Bar, samstags übt er neue Stücke mit einem Freund. Nur am Sonntag gibt es einen Tag Pause, sagt er und lacht wieder. Hayder lacht viel. Wie er es schafft, so voller Energie und Freude zu sein? Seine Antwort ist kurz und hat zwei Punkte auf dem O: "Köln."